Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Mit der Zinswende kommt der Carry Trade zurück. Hochzinswährungen gewinnen in Zeiten sinkender Zinsen in den USA und Europa an Attraktivität. Wie Anleger davon profitieren können und warum die Sache nicht ganz so einfach oder risikolos ist, wie es mitunter suggeriert wird.
Jetzt, wo die EZB die Zinsen in diesem Sommer bereits zweimal gesenkt hat und die Fed in dieser Woche nachgezogen hat, stellen sich immer mehr Anleger die Frage: „Wohin mit dem Geld?“ Die Banken senken bereits seit dem Frühjahr die Zinsen für Tagesgeld, und weil die Inflation in den USA und Europa aller Voraussicht nach besiegt worden ist, werden EZB und Fed es nicht bei ein paar Zinssenkungen belassen. Wir stehen vor einem neuen Zinsregime, und Anleger werden sich in den nächsten Monaten aufmachen, um in anderen Gefilden üppige Zinsen zu vereinnahmen. Dann wird auch der klassische Carry Trade eine fröhliche Wiederauferstehung feiern, in der einen oder anderen Form. Wir stellen Chancen und Risiken vor und erläutern, warum der Carry Trade nie idealtypisch wirkt. Spoiler: In der Realität kommt es erstens anders und zweitens als man denkt.
Der Carry Trade: Was ist das?
Als Strategie gehört der Carry Trade zum Standard-Repertoire von so gut wie allen Anlegern. Auch wer den Begriff nicht kennt, setzt den Carry Trade um. Wer Geld von seinem Nullzins-Girokonto auf ein Tagesgeldkonto transferiert (besser: in einen Geldmarktfonds), setzt einen Carry Trade im Wortsinn um. „Carry“ heißt zunächst einmal, dass Anleger ihr Geld von einer niedrig(er) rentierlichen Anlageform in eine höher rentierliche „tragen“. Das ist das Prinzip, das sich auf mannigfaltige Weise umsetzen lässt, von ganz einfach bis ziemlich kompliziert. Wie der Carry Trade in der Finanzwelt umgesetzt wird, zeigen wir im Folgenden, um die Chancen und Risiken darzustellen.
Ein klassischer Carry Trade erfolgt aus einem Währungsraum mit niedrigen Zinsen hin zu einem Währungsraum mit höheren Zinsen. Dabei wird nicht nur Eigenkapital eingesetzt, sondern auch Fremdkapital. Die Logik für den Einsatz von Krediten ist auf den ersten Blick bestechend: Je größer die Differenz zwischen den Zinsen für Kredite am Ausgangsmarkt und den Anlagezinsen am Zielmarkt, desto größer die Wirkung eines “Hebels”. Typische Carry Trades wurden seit Ende der Finanzkrise aus den Dollar-, Euro- und Schweizer Franken-Räumen getätigt, vor allem kamen jedoch Yen-Kredite zum Einsatz. Nirgendwo waren die Zinsen im vergangenen Jahrzehnt so dauerhaft niedrig.
Soweit die Theorie. Die Praxis ist dagegen ungleich komplexer
Carry Trades sind keine Oma-Blätter, wie das mitunter dargestellt wird. Ändern sich die makroökonomischen Parameter in den zugrunde liegenden Märkten, kann es zu Verwerfungen kommen. Steigen etwa die Zinsen am Ausgangsmarkt, drohen hohe Verluste bei hoch gehebelten Investments. Und nicht nur das: Weil der Carry Trade von vielen Investoren eingegangen wird, kann es über die unmittelbar involvierten Märkte hinaus zu Turbulenzen im ganzen Finanzsystem kommen.
Anfang August gab es massive Verwerfungen infolge der Auflösung von Carry Trades in japanischen Yen. Weil die Bank of Japan den Zins von 0,1 auf 0,25 Prozent erhöhte und mehr Schritte andeutete, mussten viele Anleger ihre gehebelten Positionen glattstellen, um gestiegene Yen-Kreditkosten zu begleichen. Viele Anleger hatten Yen-Kredite aufgenommen und unter anderem am japanischen Aktienmarkt investiert. Der Yen schnellte hoch, die Kurse japanischer Aktien brachen ein , aber auch weltweit wurden in der ersten Augustwoche Risikopapiere in großem Stil verkauft.
Der Economist machte folgendes Bild auf: Carry trades seien ein Beispiel für „picking up pennies in front of a steamroller”. Die kleinen, stetigen Erfolge hängen also davon ab, dass die Pfennige rechtzeitig eingesammelt werden, bevor die Dampfwalze den Pfennigfuchser eingeholt und überrollt.
Unverhoffte Chancen, komplexe Risiken
Bis hier ist das Konzept des Carry Trades recht einfach: Man „trägt“ sein Geld von einem Umfeld niedrigerer zu einem Umfeld hoher Zinsen und erzielt im Idealfall stetige, inkrementelle Renditen. Läuft es schief, wird das Portfolio von einer Dampfwalze plattgemacht, und der Anleger hat das Nachsehen. Doch es gibt beim Carry Trade noch mehr zu beachten.
Erfreulicherweise gibt es mehr Chancen, als wir es bisher beschrieben haben. Das hängt damit zusammen, dass eine prominente volkswirtschaftliche Theorie in der Praxis beständig scheitert: das Konzept der Zinsparität (Interest Rate Parity, IRP). Die Zinsparität beschreibt eine Gleichgewichtsbeziehung zwischen den Zinssätzen zweier Länder/Regionen und den Wechselkursen ihrer Währungen. Das Theorem besagt, dass die Differenz zwischen den Zinssätzen der beiden Räume der Differenz zwischen dem aktuellen Wechselkurs (Spotkurs) und dem zukünftigen Wechselkurs (Forward-Kurs) entspricht. Demnach können Anleger keine risikolosen Gewinne aus Arbitrage erzielen, indem sie Geld in einer Währung mit niedrigeren Zinsen leihen und in eine Währung mit höheren Zinsen investieren.
"Währungen mit höheren Zinsen neigen dazu, an Wert zu gewinnen.
Anleger profitieren also doppelt."
Die Praxis des Carry Trades straft diese Annahme aber Lügen. Denn unter der IRP-Prämisse sollten Währungen mit höheren Zinsen gegenüber Währungen mit niedrigeren Zinsen an Wert verlieren, da Anleger erwarten, dass die Währung mit dem höheren Zinssatz abwertet. In der Praxis jedoch zeigt sich oft das Gegenteil: Währungen mit höheren Zinsen neigen dazu, an Wert zu gewinnen. Anleger profitieren also doppelt. Dies widerspricht dem Interest Rate Parity-Theorem.
Wir wollen an dieser Stelle nicht weiter in eine Diskussion über Sinn und Unsinn volkswirtschaftlicher Modelle einsteigen, sondern auf den Zusatznutzen von Carry Trades hinweisen. Neben der Zinsdifferenz haben Anleger die begründete Hoffnung, dass sie auch Währungsgewinne am Zielmarkt erwirtschaften können. Wer in den nächsten Monaten sein Geld aus dem immer niedriger rentierlichen Euroraum abzieht und in, sagen wir, lokale Schwellenländer-Anleihen investiert, hat gute Aussichten, neben den höheren Zinsen einen Performance-Turbo auch dank der Währungsgewinne zu zünden.
Wir kommen jetzt, Sie ahnen es, zu den Fußangeln. Bisher war immer die Rede von Nominalrenditen. Doch die Inflation in Schwellenländern ist historisch gesehen strukturell höher als in den Industrieländern. Paradebeispiel hierfür ist die Türkei. Ungeachtet der hohen Zinsen waren die Realrenditen wegen der hohen Inflation in den vergangenen Jahren stets negativ. Schon 2020 lag die Inflation um zwei Punkte über den nominalen Zinsen von 10,25 Prozent. Die Teuerung explodierte 2021 und 2022 regelrecht auf bis zu 72 Prozent, während die Zinsen – dank Erdogans unkonventioneller Geldpolitik – nur auf 14 Prozent erhöht wurden. Auch als die Inflation 2023 endlich mit massiven Zinserhöhungen bekämpft wurde, blieben die Realrenditen negativ. Per Saldo haben Anleger mit Lira-Bonds auch mittelfristig Geld verloren.
Auch die Vernetzung der globalen Märkte macht Hochzinspapiere anfällig für Schocks. Das zeigte sich auch bei Emerging-Markets-Bonds in Zeiten der Nullzinsphase nach der großen Finanzkrise. Eigentlich war dies eine perfekte Zeit für den Carry Trade: Die Zinsen in den USA verharrten zwischen 2009 und 2015 bei null, und Emerging Markets glänzten mit relativer Stabilität und hohen Zinsen. Bis 2013 ging der Carry Trade aus dem Dollar-Raum perfekt auf, wie ein Vergleich der Rendite-Entwicklung zwischen einem ETF auf US-Staatsanleihen und einem ETF auf Schwellenländer-Bonds weiter unten zeigt.
Emerging Markets Bonds vs. Treasuries: starker Anfang, nach hinten raus schwach
Der Bruch kam Mitte 2013 mit dem sogenannten Taper Tantrum. Die US-Notenbank hatte recht unvermittelt einen Abschied von der extrem lockeren Geldpolitik angedeutet. Die Renditen von US-Staatsanleihen schnellten in die Höhe, und die überrumpelten Anleger lösten in großem Stil ihre Carry Trades auf. Doch die Folgen waren noch größer als ein punktueller Geldabzug vermuten lassen würde. Etliche Emerging Markets gerieten wegen hoher Leistungsbilanzdefizite in die Krise – die hässliche Bezeichnung „Fragile Five“ machte die Runde. Die Verluste von Anlegern in Schwellenländer-Bond-Fonds und -ETFs wurden durch die nachfolgenden Abwertungen der Währungen noch verstärkt. (Die US-Zinsen wurden in der Zeit übrigens nicht erhöht)
Carry Trade: Ausblick
Angesichts des neuen Zinsregimes stellt sich weniger die Frage, ob der Carry Trade in den nächsten Wochen und Monaten kommt, sondern ob die Risiken und die Ertragschancen in einem gesunden Verhältnis zueinander stehen. Hier ist das Bild – wie könnte es anders sein – nicht so eindeutig, wie wir es gerne hätten.
Die Wirtschaftsaktivität in den meisten Schwellenländern hat sich nach dem Covid-Einbruch noch nicht vollständig erholt. Die Haushaltsdefizite sind infolge der Bekämpfung der Corona-Krise massiv gestiegen. Zugleich wurden die Zinsen angesichts der auch in den Emerging Markets stark gestiegenen Inflation erhöht. Das setzt die Haushalte vieler Emerging Markets unter Druck. Die konjunkturelle Erholung ist also in vielen Ländern noch eine zarte Pflanze.
"Wenn Kenya-Bonds ein Problem bekommen, stört das die Kreise von Honduras-Anleihen wenig bis überhaupt nicht."
Dem steht die relativ geringe Verschuldungsquote von Emerging Markets im Vergleich zu den Industrieländern entgegen. Außerdem ist das Bild in Emerging Markets heterogener, als man es manchmal sehen will. Länder wie Indien, Mexiko oder Indonesien weisen solide Fundamentaldaten auf, andere stehen einigermaßen gut da, etwa Brasilien, wo das Wachstum schwächelt, aber die Inflation zurückgeht; die Türkei und Argentinien durchschreiten schmerzhafte Reformschritte. Indes sind Länder wie Sri Lanka oder Ägypten bereits im Default oder so hoch verschuldet, dass eine nachhaltige Erholung schwer vorstellbar ist.
Und das sind nur zwei Schwellen- bzw. Frontier-Länder unter vielen. Risikoscheue Anleger werden letztere Länder meiden, da deren Anleihen (und Währungen) akut absturzgefährdet sind, sodass etwaige Verluste die Zinseffekte zunichte machen können. Risikobereite Anleger werden indes wissen, dass gerade die Bond-Märkte in Frontier-Ländern wenig korreliert sind, sodass die Ansteckungsgefahren viel geringer sind als bei Bonds und Währungen der G7. Wenn Kenya-Bonds ein Problem bekommen, stört das die Kreise von Honduras-Anleihen wenig bis überhaupt nicht. Und vielleicht ist ja eine ägyptische Anleihe mit einer Laufzeit von 12 Monaten und einer Rendite von 25 Prozent angesichts der massiven Stützung der ägyptischen Währung durch die Golfstaaten doch kein hoffnungsloser Fall?
Das Bild bei den Mittelflüssen ist nicht eindeutig. Weltweit haben Anleger in den vergangenen drei Jahren Geld aus Fonds für Schwellenländer-Anleihen abgezogen. Im Juli dieses Jahres wurde allerdings seit Mitte 2023 erstmals in einem Monat mehr Geld in Fonds und ETFs investiert als abgezogen. Wer will, kann das als Trendwende deklarieren.
"Bei Anleihen geht es aus Anlegersicht nicht um Wachstumsphantasien,
sondern darum, Pleitekandidaten und Defaults zu vermeiden"
Fest steht, dass die Zinswende in den USA und Europa da ist. Sowohl die Fed als auch die EZB haben den Leitzins um jeweils 50 Basispunkte gesenkt. Die technischen Voraussetzungen sind also für einen Trendwechsel bei den Fund Flows gegeben. Fundamental ist das Bild gemischt. Aber Anleger müssen sich vergegenwärtigen, dass es bei Anleihen nicht um Wachstumsphantasien geht, sondern darum, Pleitekandidaten und Defaults zu vermeiden. Möglichst ungehebelte Carry Trades über Fonds und ETFs können also durchaus vertretbare Risiken darstellen.
Schwache Nachfrage nach Emerging Markets Anleihen-Fonds und -ETFs
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Autor
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Ali Masarwah ist Gesellschafter-Geschäftsführer der Fondsplattform envestor.de und schreibt auch Kolumnen über Investmentthemen für The Digital Leaders Fund. Anleger-orientiertes Research ist seit über 20 Jahren Alis Ding. Vor seiner Zeit bei envestor.de war er zehn Jahre lang bei Morningstar, wo er für die Personal Finance Websites des Analysehauses in Deutschland verantwortlich war. Als Experte für Anlagethemen ist er ein gefragter Ansprechpartner für Finanzmedien im deutschsprachigen Raum.
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