Im Vorfeld der türkischen Wahlen hat Präsident Erdogan Wahlgeschenke gemacht, die sich das Land nicht leisten kann. Die Probleme häufen sich, und der türkische Staat ist praktisch pleite. Wird es nach dem Wahlsieg Erdogans zu einer Kurskorrektur in der Wirtschaftspolitik kommen?
Haben politische Börsen kurze Beine? Nach dem Sieg Recep Tayyip Erdogans in der Stichwahl am vergangenen Sonntag legte die Börse in Istanbul ordentlich zu. Der MSCI Turkey stieg in der vergangenen Woche um 9,8 Prozent. Anleger schätzen offenbar Klarheit, und die ist gegeben: Erdogan wird für weitere fünf Jahre die Geschicke der Türkei lenken. Aber politische Börsen haben in der Türkei – wie auch in Emerging Markets insgesamt – längere Beine, als Anlegern lieb sein kann. Das zeigt die Entwicklung der türkischen Währung, die in den Tagen nach der Wahl einen absoluten Tiefststand gegenüber dem US-Dollar markierte und auch gegenüber anderen Währungen kräftig nachgab. (In Euro gerechnet legte der türkische Aktienmarkt nur um 6,6 Prozent zu). Der historische Absturz der türkischen Währung zeigt den wahren Zustand der türkischen Wirtschaft: Der Staat ist praktisch pleite. Woran das liegt und was die Perspektiven für die Türkei sind, wollen wir in einem Frage-Antwort-Format untersuchen.
Wo steht die türkische Wirtschaft heute?
Ohne zu übertreiben: am Abgrund. Das fängt bei den Fremdwährungsreserven an. Formal liegen die Gold- und Fremdwährungsreserven der türkischen Zentralbank bei 115 Milliarden Dollar. Aber zieht man die externen Verbindlichkeiten, die Ausleihungen im Rahmen von Swap-Geschäften ab, dann belief sich das Minus bei der Zentralbank Ende April auf 67 Milliarden Dollar. Berichten zufolge versucht die Zentralbank derzeit sogar, ihre Devisenbestände aufzufüllen, indem sie Gold über Wechselstuben und Juweliere verkauft. Angesichts des chronischen Zahlungsbilanzdefizits der Türkei – sowohl Leistungsbilanz als auch Kapitalbilanz sind negativ – kann man also sagen, dass der türkische Staat pleite ist. Die Lage verschärft haben zuletzt die teuren Wahlgeschenke Erdogans. Pensionen und Gehälter staatlicher Angestellte steigen, der Mindestlohn wurde im Januar um 55 Prozent erhöht und soll im Juli erneut steigen. Zudem hat der türkische Staat kräftig Energie-Subventionen ausgeschüttet und auch Sparern einen für den Staat sehr kostspieligen Inflationsausgleich zugesichert. Verschärft wird die Krise durch den Wiederaufbau der schwer getroffenen Erdbebengebiete. Der Wiederaufbau der Region, die für zehn Prozent der türkischen Wirtschaftsleistung steht, wird mutmaßlich eine dreistellige Milliarden Dollar-Summe verschlingen. Aber das ist nur ein Teil des Problems.
Aber das Wirtschaftswachstum der Türkei ist doch nach wie vor beachtlich?
Das stimmt auf den ersten Blick. Die Wirtschaft der Türkei wächst in der Unruheregion Nahost zwar volatil, aber doch überdurchschnittlich. Selbst im Coronajahr 2020 lag das BIP-Wachstum bei 1,9 Prozent und damit im grünen Bereich. Der GDP-Rebound 2021 betrug dann stattliche 11,5 Prozent, und im vergangenen Jahr wuchs die türkische Wirtschaft um 5,6 Prozent. Im ersten Quartal dieses Jahres lag das Plus dann bei vier Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal. Befeuert wird das Wachstum vom Konsum der Privathaushalte, die über 50 Prozent der Wirtschaftsleistung ausmachen; der Sektor legte im vergangenen Jahr um 20 Prozent kräftig zu. Neben den staatlichen Unterstützungsmaßnahmen (s.o.) wurde der Konsum auch von lockeren Kreditkonditionen befeuert. Das alles heftet sich Erdogan ans Revers. Aber das bringt uns zum Kern der aktuellen Krise: die chronischen Defizite bei gleichzeitiger Ausgabenwut und niedriger Zinsen haben eine Inflationsspirale in Gang gesetzt, die inzwischen dramatische Ausmaße angenommen hat.
Wie schlimm steht es mit der Inflation?
Die Türkei hat traditionell mit hohen Inflationsraten zu kämpfen; sie ist abhängig von ausländischen Investitionen, dem Import von Rohstoffen und anderen Wirtschaftsgütern und muss deshalb immer darauf achten, keine Inflation zu importieren. Das ist seit 2021 vollkommen daneben gegangen. Die Teuerung ist seither regelrecht explodiert. Bis Mitte 2021 lag der Preisanstieg bei unter 20 Prozent. Im Herbst 2021 sprang die Teuerungsrate auf über 30 Prozent, um dann bis Oktober 2022 stetig auf den Höchstwert von 85 Prozent zu klettern. Seitdem sind die Preise heruntergekommen, aber das liegt am Basiseffekt, also an den bereits hohen Inflationsraten des Vorjahreszeitraums. Ursache des Inflationsdilemmas ist die Entmachtung der Zentralbank durch Erdogan, der sich im Konflikt um die Richtung der Geldpolitik durchgesetzt hat. Bis 2019 hatte die türkische Zentralbank einen orthodoxen geldpolitischen Kurs verfolgt und die Inflation mit hohen Zinsen (bis 24 Prozent im Jahr 2019) bekämpft. Präsident Erdogan forderte dagegen eine Zinssenkung, nicht nur um die Wirtschaft anzukurbeln, sondern auch, um die Inflation auszumerzen. 2019 setzte der türkische Präsident den Gouverneur der Zentralbank, Murat Cetinkaya, ab. Dieser hatte sich bis dahin erfolgreich gegen Zinssenkungen gewehrt. Mit der Absetzung Cetinkayas brachte Erdogan die bis dahin weitgehend unabhängige Notenbank faktisch unter seine Kontrolle. Es folgten zahlreiche Zinssenkungen; der Leitzins liegt heute bei absurd niedrigen 8,5 Prozent. Nur „Verräter oder Analphabeten“ würden eine Verbindung zwischen niedrigen Zinsen und einer hohen Inflation herstellen, so die Analyse Erdogans. Er schert sich bisher nicht um den volkswirtschaftlichen Konsens, wonach das Rezept gegen die Teuerung eine straffe Geldpolitik ist. Erdogans Apologeten behaupten, er folge der Lehre des US-Ökonomen Irving Fisher, der vor rund 100 Jahren eine Minderheitenmeinung über den Zusammenhang zwischen Zinsen und Inflation vertrat. Doch Fisher gilt heute längst als widerlegt. Erdogan selbst hat bisher allenfalls zu erkennen gegeben, dass er der geldpolitischen islamischen Orthodoxie folgt, wonach Zinsen des Teufels seien. Ihm geht es mutmaßlich um Wachstum über alles.
Wie verhalten sich ausländische Finanzinvestoren angesichts dieser Lage?
Die ausländischen Direktinvestitionen sind in den vergangenen Jahren stetig zurückgegangen. Anleger haben Erdogans Türkei auf dem fortschreitenden Weg in die Diktatur an- und inzwischen vorerst ausgezählt. Der Weg der Türkei zu einer Diktatur wurde von einer regelrechten Anlegerflucht begleitet. Die wiederholten Wahlen 2015, die repressiven Maßnahmen nach dem Putschversuch 2016 und der Umbau der Türkei zu einem präsidentiellen System, das auf die Person Erdogan zugeschnitten ist, haben das Vertrauen ausländischer Anleger zerstört. Seit 2013 ist der Anteil ausländischer Anleger an türkischen Staatsanleihen stetig gesunken – laut dem türkischen Finanzministerium vom Hoch von 25 Prozent 2013 auf unter ein Prozent heute. Der Kapitalabzug hat sich in den vergangenen drei Jahren stark beschleunigt. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen haben Fondsmanager bezweifelt, dass selbst im Falle eines Wahlsiegs des Oppositionskandidaten Kemal Kilicdaroglus eine Trendumkehr kurzfristig stattfinden könnte.
Warum waren dann türkische Aktien über die Zeit so stabil?
Auf den ersten Blick waren türkische Aktien ein hervorragendes Investment, aber das nur für Anleger aus der Türkei und das ohne Berücksichtigung der Inflation. Nimmt man die Entwicklung der vergangenen zehn Jahre, dann konnte der MSCI Turkey ein Plus von insgesamt 435 Prozent erzielen. Allerdings nur aus Sicht eines Anlegers im Lira-Raum. Wegen der hohen Währungsverluste machten Türkei-Anleger aus dem Euroraum ein Minus von gut 40 Prozent mit demselben Investment. Investoren hierzulande wären mit einem DAX-Investment oder mit einer Anlage in Eurozonen-Aktien deutlich besser gefahren, wie die untere Grafik zeigt. Und auch für Türkei-Anleger war das Ergebnis nicht berauschend, berücksichtigt man eine Inflationsrate von durchschnittlich rund 17 Prozent pro Jahr in den vergangenen zehn Jahren. Eine Überschlagrechnung zeigt, dass aus dem nominalen Plus von 435 Prozent real nur rund 120 Prozent für Anleger aus der Türkei übrig blieb. Befeuert wurden die Kurse türkischer Aktien von türkischen Investoren, die angesichts der Inflation aus Zinsanlagen flüchteten – auch wenn Erdogan einen staatlichen Inflationsausgleich für Banksparer einführte, ausländische Anleger standen dagegen – wie bei Türkei Bonds – auch bei Aktien auf der Verkäuferseite.
Wie sehen die Perspektiven aus, jetzt wo Erdogan für weitere fünf Jahre regieren kann?
Der türkischen Wirtschaft dürfte eine Rosskur bevorstehen. Ungeachtet seiner markigen Worte scheint der türkische Präsident einzusehen, dass Reformen nötig sind. Nur wenige Tage nach der gewonnenen Stichwahl haben Staatskonzerne die Preise für Lebensmittel drastisch erhöht: Tee wurde um 40 Prozent, Kaffee um 21 Prozent und Zucker um 20 Prozent teurer. Die Preise für Milchprodukte sind seit Anfang Juni um ein Drittel gestiegen. Diese bittere Medizin werden die türkischen Verbraucher aber nur schlucken, wenn die Inflation wirksam bekämpft wird. Es ist die Rede davon, dass die Zinsen auf bis zu 30 Prozent steigen müssten, um die türkische Wirtschaft wieder auf eine stabile Grundlage zu stellen. In den Tagen nach der Wahl wurde recht zügig bekannt, dass ein Comeback von Mehmet Şimşek bevorsteht. Der Ökonom und Reformer war zwischen 2009 und 2018 erfolgreicher Finanzminister. (Er wurde von Erdogans Schwiegersohn Berat Albayrak ersetzt, der wiederum Ende 2020 zurücktrat.). Am Freitag erhärteten sich die Gerüchte, dass Şimşek Finanzminister unter der neuen Regierung Erdogan wird. Neben Şimşek sollen weitere Vertreter einer orthodoxen Geld- und Fiskalpolitik an entscheidende Stellen in die Regierung aufrücken. Die Herausforderungen sind immens: Neben den erwähnten Wirtschaftsproblemen steht die Türkei mit dem Wiederaufbau der Erdbebenregion vor einer Herkulesaufgabe. Die Strongman-Politik Erdogans hat die Beziehungen zur NATO und der EU zerrüttet. Weil Erdogan an seiner autoritären Herrschaft zunächst nichts ändern dürfte, werden die Wirtschafts- und Außenpolitik mutmaßlich bald wichtige Liberalisierungsschritte erfahren. Ob das reichen wird, um die verprellten Anleger aus dem Ausland milde zu stimmen, steht auf einem anderen Blatt.
Disclaimer
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Autor
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Ali Masarwah ist Gesellschafter-Geschäftsführer der Fondsplattform envestor.de und schreibt auch Kolumnen über Investmentthemen für The Digital Leaders Fund. Anleger-orientiertes Research ist seit über 20 Jahren Alis Ding. Vor seiner Zeit bei envestor.de war er zehn Jahre lang bei Morningstar, wo er für die Personal Finance Websites des Analysehauses in Deutschland verantwortlich war. Als Experte für Anlagethemen ist er ein gefragter Ansprechpartner für Finanzmedien im deutschsprachigen Raum.
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