Growth Aktien kontra Value Aktien: Anlegerfehler, Marktstruktur und die Indexmonopolisten

9. September 2022

Growth Aktien kontra Value Aktien

Im zweiten Teil unserer Serie zeigen wir, dass der Gegensatz zwischen Growth Aktien und Value Aktien in der Sache konstruiert sein mag, in der Anlegerrealität aber trotzdem eine wichtige Rolle spielt. Die Folgen können für die Performance von Investoren beachtlich sein. Growth-Anleger laufen Gefahr, in Anlegerfallen zu tappen. Sie sollten auch die laufenden Veränderungen der Märkte beachten – wie auch die Rolle der Indexmonopolisten.

Scheindebatte – reale Unterschiede

Im ersten Teil unserer Serie zu Growth und Value Investing haben wir geschildert, dass die Entscheidung für einen der beiden Investmentstile für manche Anleger eine Glaubensfrage ist. Growth und Value sind allerdings keine Gegensätze, sondern zwei Seiten einer Medaille –kaum ein Anleger, der auf Wachstum setzt, kauft Unternehmen zu jedem beliebigen Preis. Und Value-Anlegern können Gewinn- und Umsatzentwicklung nicht egal sein – denn sie wollen kontinuierliche, steigende Dividenden sehen. Unternehmen, die ihre Erträge nicht steigern, haben auch nicht die Möglichkeit, nachhaltig Dividenden zu steigern.

Alles Fake also? Ganz so extrem ist es nicht. Die zugespitzte “Growth-vs.-Value-Debatte” mag für sich genommen zwar eine Scheindiskussion sein, Anleger haben aber unterschiedliche Präferenzen, und die führen zu unterschiedlichen Pfaden bei der Portfoliokonstruktion.

(Exkurs: In der Psychologie gibt es den Begriff der intersubjektiven Realität. Er besagt, grob vereinfacht, dass aus Schein Realität werden kann. Staaten, Nationen, Ideologien, Religionen oder Währungen sind abstrakte Phänomene. Sie werden dann zur Realität, wenn sich eine Gruppe von Menschen darauf verständigt, sie wirklich werden zu lassen. Eine gut lesbare Darstellung zu diesem Konzept findet sich bei Yuval Harari: Homo Deus).

Genauso verhält es sich mit Growth und Value. Es sind einerseits subjektive Konzepte, die aber gelebt werden, sodass die Unterscheidung zwischen Growth und Value reale Konsequenzen haben kann – siehe die langjährige Outperformance von Value Aktien gegenüber Growth Aktien bis etwa 2003 und die nachfolgend sehr lange Outperformance von Growth Aktien bis Ende 2021 – eine Berg- und Talfahrt für Growth-Anleger!

Growth oder Value? (Nicht nur) eine Kopfsache

Growth-Anleger legen bekanntlich den Schwerpunkt auf die Zukunft, Value-Anlegern ist der Spatz in der Hand lieber als die Taube auf dem Dach. Doch warum ist das so? „Sag mir, welcher Typ du bist, und ich sage dir, in was du investierst“, bringt es auf den Punkt. Persönliche Eigenschaften haben einen Einfluss auf unser Anlageverhalten. Eine Studie, die das Investmentverhalten von finnischen Aktienanlegern über Jahrzehnte mit deren Persönlichkeitsprofilen zusammenführte, brachte erstaunliche Erkenntnisse: „Extravagante“ Anleger setzen demnach auf große Wachstumsaktien. Impulsive Charaktere, so die Untersuchung, kaufen kleine Growth Aktien, während „sentimentale“ Anleger eher in kleinere Value-Unternehmen investierten – wie auch tendenziell „sozial“ eingestellte Investoren. 

Für etwas mehr Kontext. Mit „extravagant“ ist eine Affinität zu exzessivem Konsum gemeint, „impulsive“ Anleger sind solche, die dazu neigen, Entscheidungen auch ohne vollständige Informationen zu fällen. „Sentimentale“ Investoren lassen sich von emotionalen Anregungen beeinflussen, und „gesellige“ Anleger sind Menschen, die sich Gruppen anschließen und sich anderen schnell verbunden fühlen. (Diese Zuordnung sagt natürlich nichts darüber aus, ob die Anlegertypen mit ihren Investments gut gefahren sind, oder, philosophisch formuliert: aus dem Sein folgt kein Sollen.)

Auch andere Untersuchungen haben den Zusammenhang zwischen Anlegerpsychologie und Investmentpräferenzen ermittelt, wenn auch nicht so detailliert wie das finnische Beispiel. Immer wieder haben Untersuchungen gezeigt, dass das Sentiment für Growth-Aktien besonders beliebt ist, wenn die Aktien-Volatilität niedrig ist. Dieser bereits 2003 ermittelte Zusammenhang wurde seitdem immer wieder bestätigt. Der Hintergrund: Steigen die Märkte, springen die optimistischen Anleger auf. (Das erklärt auch, warum Momentum-Portfolios zumeist ein Growth-Übergewicht aufweisen). 

Die Sache dürfte natürlich komplizierter sein als die Gleichung: „Growth für die Optimisten, Value den Pessimisten“. Das Anlegersentiment verläuft natürlich nicht nur entlang des Value-Growth-Paradigmas. Eine Untersuchung stellte vor einigen Jahren die These auf, dass die Suche nach “beliebten” Aktien wichtiger sei als der Einzelfaktor Value oder Growth. 

Nicht nur Growth-Aktien sind glamourös, sondern auch Unternehmen mit Wettbewerbsvorteilen, starken Brands, die steuerliche Vorteile bieten oder solche, die einen guten Ruf haben. Die Beliebtheit hat allerdings einen Preis: Weil viele Anleger solche Aktien kaufen, werden diese oftmals hoch bewertet. Das wiederum drückt auf die erwartete Rendite der Zukunft. Dabei haben offenbar quantitative Investment-Strategien (Stichwort: Smart Beta) viel dafür getan, die Bewertungen von beliebten Aktien auf gefährliche Höhen zu treiben. Anleger sollten also kritisch hinterfragen, aus welchen Motiven sie in bestimmte Aktien investieren – vielleicht sind es ja nicht nur nüchterne Cashflow-Analysen, die sie zu bestimmten Aktien treiben, sondern ihr Naturell bzw. ihre Vorliebe für „everybody’s darlings“? 

Dass Growth-Anleger in der Praxis einen Preis für überschäumenden Optimismus und ihre Impulsivität zahlen, zeigt, dass sie dazu neigen, ihre persönliche Performance durch ihre Trades zu verschlechtern. Man spricht vom Hot Money Phänomen. Dazu eine kleine Auswertung, die den Abstand zwischen der Investoren-Rendite (IR) von Growth und Value zeigt. Der Abstand zwischen IR und dem Total Return fällt bei globalen Value-Aktienfonds günstiger aus als bei global anlegenden Growth-Fonds. Growth-Anleger gehen also stärker prozyklisch vor; Sie jagen eher dem “heißen Scheiß“ hinterher als Value-Investoren.

Value Investoren sind stiltreuer als Growth Anleger

IR TR Growth Value
Grafik zeigt die Differenz zwischen IR und TR bei den Fondskategorien Aktien Welt Value und Aktien Welt Growth in drei Zeitspannen, in Prozentpunkten, Daten per 31.7.2022, Quelle: Pyfore Capital, Morningstar

Growth vs. Value Aktien: Märkte im Wandel

Hat der Markt wirklich immer recht, wie es ETF-Anleger behaupten? Das bringt uns zur Frage: Was ist der Markt und wann? Das ist zeitabhängig. Anleger, die ihre Portfolios nach den klassischen Value und Growth Kriterien zusammenstellen, kaufen heute dies und morgen jenes. In der Praxis kann das zu Klumpenrisiken führen. Um dies zu illustrieren, schauen wir auf die Änderungen in der Zusammensetzung von zwei Indizes: Dem MSCI World Value und MSCI World Growth. Seit 2012 hat sich die Branchenkomposition deutlich verändert. Die untere Grafik zeigt das Gewicht von fünf Branchen im MSCI World Value gegenüber deren Gewichtung im MSCI World Growth. Werte über der Nulllinie signalisieren eine höhere Gewichtung im Value Index, Werte unterhalb der Nulllinie zeigen, dass eine Branche im Growth-Index höher gewichtet ist. 

Die Branchen sind in den vergangenen zehn Jahren munter hin- und hergeflogen. Während Telekoms lange Zeit im Value Index höher gewichtet waren, befinden sie sich seit 2019 fest im Growth-Lager. Anders ist es bei Gesundheitsaktien und Unternehmen aus dem Bereich Basiskonsum der Fall: Diese sind seit 2020 im MSCI Value Index deutlich stärker vertreten als im Growth-Index. Rohstoffaktien pendelten in den vergangenen zehn Jahren ebenfalls wild um die Nulllinie. Wenn also Value-Investoren die Dividenden-Qualitäten von Telekom-Aktien schätzen, müssen sie sich vergewissern, ob diese tatsächlich in ihrem klassischen Value-ETF vertreten sind. Und wer meint, dass Pharma immer im Growth-Lager zu finden ist, sollte dringend seinen Fonds-Screener anschmeißen.

Manchmal hü, manchmal hott oder aus Value mach Growth

relatives Gewicht nach Branchen im MSCI World Value vs MSCI World Growth seit 2012
Relatives Gewicht nach Branchen im MSCI World Value vs MSCI World Growth seit 2012, Nettogewicht in Punkten, Daten per 31.7.2022, Quelle: Pyfore Capital, Morningstar

Doch auch dort, wo nicht alles fließt, ist Vorsicht angesagt. Value und Growth Indizes können eine ziemliche Unwucht aufweisen. Das zeigen die beiden unteren Grafiken. Finanztitel, vor allem Bankaktien, sind seit jeher hoch in Value-Portfolios gewichtet – mitunter allzu hoch. Das hat mitunter unschöne Konsequenzen, etwa in Finanzkrisen, in Phasen niedriger Zinsen sowie in politisch turbulenten Zeiten, und von diesen hatten wir in den vergangenen 20 Jahren viele. Nicht von ungefähr fällt die langjährige Value-Malaise mit dem nachhaltigen Abschwung von Bankaktien zusammen.

Wo Value noch Value ist

relatives Gewicht nach Branchen im MSCI World Value vs MSCI World Growth seit 2012
Relatives Gewicht nach Branchen im MSCI World Value vs MSCI World Growth seit 2012, Nettogewicht in Punkten, Daten per 31.7.2022, Quelle: Pyfore Capital, Morningstar

Spiegelbildlich dazu finden sich Aktien aus den Sektoren diskretionärer Konsum und Technologie konstant in Growth-Portfolios übergewichtet. Bei Tech-Aktien ist die Unwucht bedenklich. Sie waren in den vergangenen Jahren um 20 bis 25 Punkte höher vertreten als in Value-Portfolios. (Absolut gesehen machen Tech-Aktien rund ein Drittel des MSCI World Growth aus; im MSCI Value sind sie dagegen nur mit rund acht Prozent dabei)

Wo Growth noch Growth ist

relatives Gewicht nach Branchen im MSCI World Value vs MSCI World Growth seit 2012
Relatives Gewicht nach Branchen im MSCI World Value vs MSCI World Growth seit 2012, Nettogewicht in Punkten, Daten per 31.7.2022, Quelle: Pyfore Capital, Morningstar

Die Indexanbieter als Manipulatoren der Märkte

Wer sich anschickt, auf Value oder Growth ETFs zu setzen, sollte schlussendlich nicht nur die mögliche Unwucht bei Bewertungen und Branchengewichtungen beachten, sondern auch bedenken, dass die Zusammensetzung von klassischen Portfolios auch von der Definitionsmacht der Indexanbieter abhängt. Wir haben bereits im ersten Teil gezeigt, dass es Rating-Agenturen wie Morningstar oder Indexanbieter die MSCI oder S&P in der Hand haben, die Zusammensetzung durch die Auswahl und die Gewichtung von Growth-/Value-Datenpunkten zu bestimmen. Entsprechend haben die Herren über die Marktportfolios auch die Macht, Growth- und Value-Portfolios durch Änderungen in der Branchenzuordnung von Unternehmen prägend zu beeinflussen. 

Hinter dem oben geschilderten Wechsel weiter Teile des Sektors Telekommunikation vom Value- in das Growth-Lager steht die Neuzusammensetzung der globalen Sektor-Indizes (GICS, Global Industry Classification Standard), auf die sich DJ, MSCI und S&P 2018 geeinigt hatten. In der Folge wechselten Tech-Player wie Alphabet, Meta und Tencent vom Tech-Bereich ins Telekom-Lager (Kommunikation), das nun nicht länger klassische Versorger wie die AT&T oder Deutsche Telekom umfasst. Unternehmen wie Netflix, Disney und Comcast (ehemals diskretionärer Konsum) peppen seitdem den Telekomsektor auf. Die Folgen für die Bewertungen waren erheblich. Spiegelbildlich zur gestiegenen Bedeutung von Telekoms in globalen Indizes ist das Gewicht von Tech-Werten deutlich gesunken. Weitere Änderungen werden laufend vorgenommen, andere sind für 2023 geplant. Anleger, die also dem Markt vertrauen, sei es der breite Markt oder mechanisch konstruierte Style-Portfolios, sollten also bedenken, dass es sich bei Indizes um fluide Konstrukte handelt, die aus dem Nichts aus Growth-Investoren Value Anleger machen können.

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Dieser Beitrag stellt eine Meinungsäußerung und keine Anlageberatung dar. Bitte beachte die rechtlichen Hinweise.

Autor

  • Ali Masarwah

    Ali Masarwah ist Gesellschafter-Geschäftsführer der Fondsplattform envestor.de und schreibt auch Kolumnen über Investmentthemen für The Digital Leaders Fund. Anleger-orientiertes Research ist seit über 20 Jahren Alis Ding. Vor seiner Zeit bei envestor.de war er zehn Jahre lang bei Morningstar, wo er für die Personal Finance Websites des Analysehauses in Deutschland verantwortlich war. Als Experte für Anlagethemen ist er ein gefragter Ansprechpartner für Finanzmedien im deutschsprachigen Raum.

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Ali Masarwah

Ali Masarwah ist Gesellschafter-Geschäftsführer der Fondsplattform envestor.de und schreibt auch Kolumnen über Investmentthemen für The Digital Leaders Fund. Anleger-orientiertes Research ist seit über 20 Jahren Alis Ding. Vor seiner Zeit bei envestor.de war er zehn Jahre lang bei Morningstar, wo er für die Personal Finance Websites des Analysehauses in Deutschland verantwortlich war. Als Experte für Anlagethemen ist er ein gefragter Ansprechpartner für Finanzmedien im deutschsprachigen Raum.

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