Gegenwind für die KP Chinas: Wohl und Wehe hängt am Immobilienmarkt

14. Oktober 2022

China Immobilienmarkt

Im zweiten Teil unserer China-Serie blicken wir auf den gebeutelten Immobiliensektor, den Zustand der Digitalwirtschaft und den Taiwan-Konflikt. Xi Jinping muss dicke Bretter bohren, auch um Anleger bei der Stange zu halten. Unser Vorbericht zum 20. Kongress der KP Chinas.

Im ersten Teil unserer Serie zum anstehenden 20. Parteikongress der KP Chinas haben wir die Herausforderungen Zero-Covid-Politik und den Russland-Ukraine Krieg für China beleuchtet. Heute wollen wir uns drei weiteren heißen Problemkreisen widmen: die Krise des Immobiliensektors, die angeschlagenen Technologie- und Plattformunternehmen sowie das strategische Zukunftsthema “Taiwan”. Die ersten beiden Rubriken sind wirtschaftspolitischer Natur. Und um die Wirtschaft macht sich derzeit nicht nur Xi Jinping Sorgen. Eine harte Landung für Chinas Wirtschaft hätte verheerende Folgen fürs Finanzsystem und könnte in einer Rezession enden, die auch für die regierende Kommunistische Partei einen herben Schlag bedeuten würde, denn die Legitimation der Ein-Parteien-Herrschaft beruhte bisher zum größten Teil auf den Wohlstandsgewinnen für weite Bevölkerungsteile. Dieser Pakt ist nun in Gefahr.

Immobiliensektor

Der Gesamtwert des chinesischen Immobilienmarktes liegt Schätzungen zufolge bei ungefähr 55 Billionen Dollar. Und kann schon allein wegen seiner Größe, seines bisherigen Wachstums und seines unersättlichen Appetits auf Eisenerz, Kupfer, Zement und andere Waren und Dienstleistungen als einer der wichtigsten Wirtschaftssektoren der Welt bezeichnet werden. Er macht circa 25 bis 30 Prozent des chinesischen BIPs aus. Gleichzeitig vertraut die chinesische Mittelschicht auf ihn: Immobilien machen etwa drei Viertel des Vermögens einer typischen Mittelstandsfamilie aus.

Jetzt, wo der 20. Parteikongress der KP Chinas an diesem Wochenende zusammenkommt, um seine Errungenschaften in den letzten fünf Jahren zu feiern, werden Analysten weltweit beobachten, wie Peking eine seiner bedeutendsten wirtschaftlichen Herausforderungen angehen will. Die Krise im chinesischen Immobiliensektor hat an Dynamik gewonnen, seit Evergrande, einer der größten Immobilienentwickler des Landes – und gleichzeitig der am stärksten verschuldete der Welt – sich seinen ersten Verzug bei Anleihezahlungen geleistet hat. Der Schock vernichtete Milliarden von Dollar, die dem Unternehmen und seinen Konkurrenten geliehen wurden, lähmte den Bau und hinterließ im ganzen Land massenweise unfertige Wohnungen und veranlasste Hypothekenboykotte von wütenden Eigenheimkäufern.

In Zahlen sieht das Ganze ungefähr so aus: Chinas Hauspreise rutschten im August noch weiter ab und befinden sich seit 12 Monaten in Folge in einem absteigenden Trend. Dabei ist dieser Preisrutsch noch stärker ausgeprägt in den Tier-3 und Tier-4 Städten. Berichte von Investmentbanken zeigen, dass die Verkäufe von Wohnimmobilien in den ersten acht Monaten des Jahres um etwa 30 Prozent eingebrochen sind. Gleichzeitig sind die landesweiten Immobilieninvestitionen – sprich der Finanzierungsbeginn von neuen Bauprojekten um mehr als sieben Prozent geschrumpft.

Fallende Immobilienpreise in China

Darüber hinaus ist jetzt auch das typisch chinesische Modell des Hausverkaufs in Gefahr. Der sogenannte Vorverkauf, bei dem Entwickler Wohneinheiten “auf dem Papier” (期房 qīfáng) an Endkunden verkaufen, machte 2021 circa 90 Prozent des Umsatzes aus. Mit diesem Cashflow sollten Entwickler eigentlich angehalten sein, die Wohnungsprojekte zum Abschluss zu bringen. Gesetzlich geregelt ist das Ganze aber nirgends. Häufig wurden die Gelder von eifrigen Baulöwen dazu benutzt, die nächsten Landkäufe für noch größere Bauvorhaben zu finanzieren.

Inzwischen kommt es landesweit zu sogenannten “Hypothekenboykotts”. Betroffen sind über 300 Immobilienprojekte und zwei Prozent von allen ausstehenden Hypothekendarlehen, immerhin 245 Milliarden Dollar. Um all dies aufzufangen, könnten auf die Lokalregierungen massive Neuschulden zukommen. Denn letztlich geht es darum, soziale Unruhen zu verhindern und das Vertrauen in den Immobilienmarkt wiederherzustellen. Wer sich die Videos zu den Boykotts Anfang Juli in Zhengzhou, der Hauptstadt der Provinz Henan, anschaut, weiß wovor die Zentralregierung Angst hat.

Guter Rat ist teuer für Xi Jinping und dies nicht nur sprichwörtlich. Einerseits muss er mit kräftigen Stimuli den Wohnungsmarkt wieder neu beleben. Das kostet Geld, das die bereits unter Zero-Covid leidenden Lokalregierungen nicht haben. Jetzt steigt also auch noch die Neuschuldenaufnahme. Nicht vergessen werden darf in diesem Kontext, dass die fiskalischen Einnahmen der Lokalregierungen sich in 2021 zu 42 Prozent aus Landverkäufen speisten. Dass etwas faul ist im Staate China, zeigt die Statistik, wonach im Jahr 2000 nur 6 Prozent der lokalen Gelder aus solchen Quellen stammten. Doch neue Landkäufe können sich die gebeutelten privaten Immobilienentwickler nicht mehr leisten. Vermehrt müssen die staatlichen Immobilienentwickler und sogenannte “Local Government Financing Vehicle” (LGFV) einspringen. In gewisser Hinsicht kauft sich der Staat das Land jetzt selber ab.

Andererseits hat Xi Jinping alles daran gesetzt, dass die privaten chinesischen Immobilienentwickler nach Jahren des Exzesses ihre Schulden abbauen. Gerade durch die Einführung der “Drei Roten Linien” (三道红线) im Grunde ein strenger Balance Sheet Test für die Branche – ist es zu den anfangs gewollten Restrukturierungen bei den Riesen der Branche wie Evergrande vor einem Jahr gekommen. Immer wieder wird auf den Parteiveranstaltungen gepredigt, dass Wohnungen eben zum Wohnen da sind und nicht für Spekulationen (房子是用来住的,不是用来抄的). Wer das Ernst meint, kann jetzt nicht wieder klein beigeben. Die demographische Entwicklung des Landes legt ebenfalls nahe, dass in Zukunft nicht mehr so viele neue Wohnungen wie noch in der Vergangenheit gebraucht werden. Auch die Migrationsbewegung vom Land in die Städte, die häufig als guter Grund für neue Wohnungsbauvorhaben herhalten musste, hat sich stark verlangsamt.

Der Wirtschaftsmotor der letzten Jahrzehnte mit Immobilien- und Infrastrukturinvestitionen an seiner Spitze ist, um es milde auszudrücken, arg lädiert. Wenn Xi Jinping nicht in alte Muster zurückfallen will, muss er eine schmerzhafte Neubalancierung wagen. Weitere angebotsseitige Reformversuche (supply-side reforms and stimuli) werden nicht mehr ausreichen. Denn das Hauptproblem ist, dass die Konsumausgaben der privaten Haushalte in China weniger als 40 Prozent des chinesischen BIPs ausmachen, im Vergleich zu einem globalen Durchschnitt in anderen Ländern von etwa 60 Prozent.

Deshalb ist es dringend notwendig, den Konsumanteil am BIP nachhaltig zu erhöhen. Chinesische Haushalte müssen einen größeren Anteil ihrer Produktion behalten, was natürlich auch bedeutet, dass ein anderer Wirtschaftssektor – entweder Unternehmen oder der Staat – Abstriche machen muss. Da Unternehmen in China ungefähr den gleichen Anteil am BIP bestreiten wie in anderen Ländern, kommt dieser Sektor schon mal nicht in Frage. Die einzige Möglichkeit, den Konsum in China nachhaltig anzuheben, erfordert erhebliche Transfers von den lokalen Regierungen an die Haushalte.

Und genau dies ist der Grund, warum es für Peking so schwierig ist diese Neubalancierung umzusetzen. Selbst 15 Jahre nachdem der damalige Premier Wen Jiabao 温家宝 erstmals diesbezügliche Versprechungen gemacht hatte, ist der Konsumanteil am BIP nur um wenige Prozentpunkte gestiegen. Der für einen Transfer von 10 bis 20 Prozentpunkten des BIP hin zu privaten Haushalten notwendige Machtverlust auf Kosten der lokalen Regierungen ist eine gewaltige Herausforderung. Wird sich Xi Jinping das trauen? Wir werden abwarten müssen.

Technologiesektor

Kaum etwas symbolisiert den Zustand der chinesischen Technologieunternehmen wie die Tatache, dass Internetriese Tencent dieser Tage vom Reisschnapshersteller Kweichow Moutai als wertvollstes Börsenunternehmen Chinas abgelöst wurde. Auch andere Branchen und Unternehmen leiden an der Börse. Der Hang-Seng-Index ist jetzt zum ersten Mal seit Mai 2009 wieder unter die 17.000-Punkte-Grenze gerutscht. Mehr als 13 Jahre Börsengewinne wurden damit ausgelöscht. Das Kurs-Buch-Verhältnis der im Hang Seng China Enterprise Index vertretenen Unternehmen ist jüngst auf ein historisches Tief von sagenhaften 0,6 gefallen.

Market Cap Tencent vs Moutai

Als Jack Ma an jenem verhängnisvollen 24. Oktober 2020 in Shanghai auf dem “Bund Summit” die versammelte Riege der aus Peking angereisten staatlichen Chefregulierer abkanzelte, konnte keiner wissen, dass damit der Startschuss für eine äußerst scharfe Regulierungswelle gegen den ganzen Internetplattformsektor gefallen war. Die Ära der glamourösen und extravaganten Tech-Gründer mit großem Mut und Charisma ist in China nun offiziell vorbei.

Was mit der Absage des prestigereichen IPO der Ant Group begann, setzte sich mit einem zuvor nicht gekannten harten Durchgreifen gegen jedwede Form von monopolistischen Auftreten der dominierenden Plattformen fort und endete in sektorspezifischen Verboten, von denen das gegen die After-School-Tutoring Unternehmen wohl das folgenreichste war. Der Höhepunkt und für viele unvergessen waren die Sanktionen gegen das voreilig an die Börse gepreschte Ridehailing Unternehmen DiDi. Im Laufe des Jahres waren durch diesen Crackdown mehr als 2 Billionen Dollar an Marktkapitalisierung verbrannt worden. Wenig hilfreich, aber kaum die Schuld der Xi Regierung, war die Androhung eines Delistings aller in den USA gelisteten chinesischen Unternehmen im Rahmen der neuen US-Gesetzgebung des “Holding Foreign Companies Accountable Act”.

Aber warum soll sich der alte und neue Präsident Xi Jinping jetzt darum scheren, wie es den chinesischen Technologieunternehmen und ihren einst glorreichen Gründern geht? Wir sehen hier akuten Handlungsbedarf aus zwei Gründen: Innovation und Arbeitsplätze.

Fangen wir mit dem einfachen Thema Arbeitsplätze an. Es war nie ein Geheimnis, dass Chinas Universitätsabsolventen bevorzugt bei Unternehmen wie Alibaba, Tencent und Baidu angeheuert haben. Doch die einstigen Börsenstars gehen selber durch Entlassungswellen und haben keinen Bedarf an unerfahrenen Berufsanfängern mehr. China hat alleine dieses Jahr mehr als zehn Millionen Graduierte mit Arbeitsplätzen zu versorgen. Die Jugendarbeitslosigkeit ist mit fast 20 Prozent auf Rekordniveau gestiegen. Soziale Unruhen sind in einem solchen Kontext kein theoretisches Konstrukt. Kurzum: die Partei braucht erfolgreiche Digitalunternehmen, die Arbeitsplätze schaffen.

Zum Thema Innovationsbedarf. Woher soll Innovation jetzt noch kommen? Auch wenn Chinas staatskapitalistisches System in den letzten zwanzig Jahren sicher seinen Beitrag zum erfolgreichen Entstehen komplett neuer Technologiesegmente geleistet hat, so waren es die chinesischen Unternehmerpersönlichkeiten mit ihren Visionen, ihrem Pragmatismus und einem unvorstellbaren Durchhaltevermögen, die China in einigen Feldern an die Weltspitze gebracht haben. Diesem unternehmerischen Raum, der schöpferische Kraft freigesetzt hat, ist in den letzten Jahren nach und nach der Sauerstoff entzogen worden. Kevin Rudd, Chef der Asia Society, hat es kürzlich so ausgedrückt: “Xi hat die Politik zur leninistischen Linken, die Wirtschaft zur marxistischen Linken und die Außenpolitik zur nationalistischen Rechten gedrängt.”

Für die Wirtschaft bedeutete dies die Rückkehr des Primats des Staates. Dass es nicht gänzlich ohne Unternehmertum gehen wird, weiß auch die chinesische Führung. In den als “zukunftsträchtig” auserkorenen Gebieten wie Halbleiter, Künstliche Intelligenz, Supercomputing, Advanced Manufacturing und Robotics soll in Zukunft auf die sogenannten “Little Giants” (小巨人) gesetzt werden. Mittlerweile gibt es von diesen mehr als 9000 und bis 2025 sollen es gar Zehntausend sein. Letztlich ist das Ganze ein bisschen von den deutschen KMUs abgeschaut, die durch das Buch “Hidden Champions” in China bekannt geworden sind. Einige von ihnen sind mittlerweile auch bereits an den eigens in Peking (BSE) und Shanghai (STAR Market) eingerichteten Spezialbörsen an den Markt gegangen. 

Doch die meisten Experten sind sich einig: auch wenn Xi Jinping noch so sehr über die “ungeordnete Expansion des Kapitals” (资本无序扩张) bei den grossen Digitalunternehmen Chinas schimpfen mag, auf ihre starke Innovationskraft wird er im Kampf mit dem mächtigen Rivalen Amerika nicht verzichten können. Das richtige Zeichen wäre unserer Meinung nach eine baldige Genehmigung für den Börsengang der Ant Group und DiDi in Hong- kong, eine Normalisierung und bessere, rechtzeitige Kommunikation in Sachen Regulierung sowie eine deutliche Klarstellung der Wichtigkeit der Rolle von Privatunternehmen in Chinas Wirtschaft. Der jetzige und im März nächsten Jahres aus dem Amt scheidende Premier Li Keqiang, immerhin die Nummer 2 nach Xi Jinping im wichtigen Ständigen Ausschuss des Politbüros hat letzteres in den vergangenen Monaten häufig zur Sprache gebracht, gerade jüngst wieder auf seinem bedeutungsschwangeren Trip in Shenzhen. Nun muss auch Xi Jinping in diesem Sinne Stellung beziehen. Der Eindruck, dass Ideologie die Wirtschaft übertrumpft, wie es Jörg Wuttke, der Chef der Europäischen Handelskammer in China jüngst formulierte, muss schleunigst korrigiert werden.

Taiwan

Spätestens seit dem Tripp der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosis nach Taiwan Anfang August weiß nun so gut wie jeder, der die Zeitung liest, wie ernst es China um die aus ihrer Sicht abtrünnige Provinz ist. Nie zuvor hat China mit derartiger militärischer Präsenz sein Missfallen an der als Missachtung an dem Ein-China-Prinzip empfundenen diplomatischen Einmischung ausgedrückt. In akademischen und diplomatischen Zirkeln werden nun Parallelen zum Russland-Ukraine Krieg und mögliche Implikationen diskutiert. Einher damit geht die Diskussion um eine Entkopplung oder zumindest strategische Neuausrichtung des wirtschaftlichen Engagements mit China. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz will Anfang November nach Peking reisen, hat aber jetzt schon klar gemacht, dass Entkopplung nicht in Frage kommt. Aber auch er und seine Berater werden nicht umhin kommen, sich mit der Taiwan-Frage zu beschäftigen und Szenarien zu entwerfen, wie es um die deutschen Unternehmen und deutsche Abhängigkeiten von China bestellt ist, falls China sich für eine militärische Lösung in Taiwan entscheidet.

Auch deswegen werden die China-Watcher am 16. Oktober besonderes Augenmerk auf Xi Jinpings Rede anlässlich seines Arbeitsberichts vor den über 2300 Abgeordneten des 20. Parteikongresses legen, um neue und kleinste Zwischentöne bei seinen Anmerkungen zur Taiwan Problematik aufzugreifen. Ein kurzer Blick auf vergangene Parteikongresse und die Reden der jeweiligen Präsidenten zeigt, dass Taiwan immer schon ein zentrales Thema war. Es gibt Kontinuitäten, aber auch neue Tendenzen. In der Vergangenheit wurden stets diese neun Prinzipien zur Taiwan Frage in den Vordergrund gestellt:

  1. Das Leitprinzip (方针 fangzhen) der friedlichen Wiedervereinigung Taiwans gemäß der Formel „Ein Land, zwei Systeme“ und dem Acht-Punkte-Vorschlag von Jiang Zemin aus dem Jahr 1995.
  2. Einhaltung des Ein-China-Prinzips, dessen Kernpunkt darin besteht, dass das Territorium Taiwans innerhalb des Hoheitsgebiets Chinas liegt.
  3. Starker Widerstand gegen Separatismus und die Unabhängigkeit Taiwans.
  4. Bereitschaft zu Dialog, Austausch, Konsultationen und Verhandlungen mit jeder politischen Partei, die sich an das Ein-China-Prinzip hält.
  5. Betonen Sie die Idee, dass die Menschen auf Taiwan und die Menschen auf dem Festland „Brüder und Schwestern gleichen Blutes“ sind.
  6. Herstellen einer Verbindung zwischen der Vereinigung und der Sache der „großen Wiederbelebung der chinesischen Nation“.
  7. Hoffnungen auf das taiwanesische Volk als eine Kraft zu setzen, die dabei hilft, die Vereinigung herbeizuführen.
  8. Ein Versprechen, dass Fortschritte auf dem Weg zur Vereinigung und die Vereinigung selbst Taiwan materielle Vorteile bringen werden.
  9. Ein Ausdruck der „höchsten Aufrichtigkeit“ Pekings gegenüber dem Einigungsprojekt.

 

Doch bereits auf dem letzten Parteikongress vor fünf Jahren sind die letzten drei Aspekte von Xi Jinping nicht mehr erwähnt worden. Punkt 8 und 9 sind vielleicht eher irrelevant, aber Punkt 7 auszulassen verspricht nach Meinung vieler China Experten nichts Gutes. Stattdessen sagte er:

„Wir werden die nationale Souveränität und territoriale Integrität entschlossen wahren und niemals eine Wiederholung der historischen Tragödie eines geteilten Landes tolerieren. Alle Aktivitäten zur Spaltung des Mutterlandes werden vom gesamten chinesischen Volk entschieden abgelehnt. Wir haben einen festen Willen, volles Vertrauen und ausreichende Fähigkeiten, um jede Form von Sezessionsplänen für die Unabhängigkeit Taiwans zu vereiteln. Wir werden niemals zulassen, dass eine Person, eine Organisation oder eine politische Partei einen Teil des chinesischen Territoriums zu irgendeinem Zeitpunkt oder in irgendeiner Form von China abspaltet.“

Es steht zu befürchten, dass die Vereinigung mit Taiwan ein Teil der höchst ehrgeizigen Agenda ist, die sich Xi als Chinas Führer gesetzt hat. Zwar hat China in der Vergangenheit mehrmals erklärt, dass Peking „das derzeitige Sozialsystem in Taiwan und den Lebensstil der taiwanesischen Landsleute respektieren“ werde. Nicht betont hat er hingegen, dass er die Meinungen der Bürger Taiwans respektieren werde. Und damit sind wir beim Kern der Sache angelangt: Bei den Wahlen 2016 lehnten die taiwanesischen Wähler den Kandidaten der KMT-Partei zugunsten von Tsai Ing-wen (蔡英文), der Kandidatin der DDP und heutigen Präsidentin, ab.

Ein Grund war die wachsende Befürchtung, dass die Politik der KMT Taiwan wirtschaftlich zu sehr von China abhängig gemacht hätte. Aber die Wahl einer DPP-Regierung ist nicht gleichbedeutend damit, dass Präsidentin Tsai die Unabhängigkeit Taiwans anstrebt. Präsidentin Tsai war in der Tat sehr vorsichtig in ihrer Herangehensweise an die Beziehungen über die Taiwanstraße hinweg nach China. Umfragen zeigen, dass die große Mehrheit der Taiwaner gegen die Unabhängigkeit ist, genauso wie sie gegen die Wiedervereinigung sind. Der präferierte Status ist der Status Quo.

Was sich aber über die Zeit mit Sicherheit geändert hat, ist die Popularität von Pekings Modell – „Ein Land, zwei Systeme“. Die jüngsten Ereignisse in Hongkong haben das Modell noch unbeliebter gemacht. Die jüngsten Äußerungen des chinesischen Botschafters in Frankreich legen eher den Verdacht nahe, dass eine umfangreiche “patriotic re-education” der taiwanesischen Landsmänner nach der Vereinigung geplant ist. Deswegen stellen sich an dieser Stelle gleich mehrere Fragen, die Xi Jinping aus unserer Sicht in den nächsten fünf Jahren seiner Amtszeit beantworten muss: Versteht die chinesische Führung, dass ihre eigene Politik Taiwans Befürchtungen geprägt hat? Versteht die chinesische Führung, dass sie angesichts des demokratischen Systems Taiwans keine andere Wahl hat, als ihre Hoffnungen auf das taiwanesische Volk zu setzen? Und wird in Peking erkannt, dass es wahrscheinlicher ist, dass sie ihre langfristigen Ziele nicht durch Drohungen voranbringen, sondern indem sie den Menschen in Taiwan gute Gründe dafür geben, zu glauben, dass es eine Grundlage für eine positive Beziehung zu China gibt? Viele Fragen, auf deren Antworten wir jetzt warten müssen.

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Dieser Beitrag stellt eine Meinungsäußerung und keine Anlageberatung dar. Bitte beachte die rechtlichen Hinweise.

Autor

  • Mirko Wormuth

    Mirko war 23 Jahre lang in China als Anwalt und Unternehmer tätig. Zuletzt war er Global Head of HR für das chinesische EV Startup BYTON in Nanjing. Davor lagen seine unternehmerischen Tätigkeiten im Bereich des chinesischen E-Commerce und Einzelhandels. Seit 2020 managt Mirko den auf die chinesische Digitalisierung spezialisierten “China Digital Leaders” Fonds.

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Mirko Wormuth

Mirko war 23 Jahre lang in China als Anwalt und Unternehmer tätig. Zuletzt war er Global Head of HR für das chinesische EV Startup BYTON in Nanjing. Davor lagen seine unternehmerischen Tätigkeiten im Bereich des chinesischen E-Commerce und Einzelhandels. Seit 2020 managt Mirko den auf die chinesische Digitalisierung spezialisierten “China Digital Leaders” Fonds.

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