Liebe Leser und Investoren,
übermorgen wird in der Türkei gewählt. Der „Economist“ hat die Präsidentenwahl als die wichtigste Wahl dieses Jahres ausgerufen – zu Recht, wie ich meine. Die Türkei hat die Chance, mit der Abwahl Erdogans auf den Weg der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zurückzukehren. Anlässlich der traurigen Nachricht vom Tod Kemal Derviş Anfang der Woche möchte ich etwas „Myth Debunking“ in Sachen Erdogan betreiben. Der Mythos des „Modernisierers“, von dem Erdogan lange Zeit zehrte, geht auf die Arbeit Derviş‘ zurück. Der Wirtschaftswissenschaftler und langjährige Mitarbeiter der Weltbank gilt als Vater des Reformplans, der die Türkei aus der tiefen Krise Anfang des Jahrtausends holte und zu einer Emerging Markets Erfolgsgeschichte machte. Zeitweilig zumindest. Die Umsetzung von Derviş‘ „Strong Economy“-Programm umfasste eine radikale Liberalisierung des türkischen Finanzsystems, schuf eine unabhängige Notenbank, machte die Lira zu einer frei konvertierbaren Währung und etablierte mit einem neuen Ausschreibungsrecht ein Instrument, das mit dem Filz der vorherigen Jahrzehnte aufräumte. Ironischerweise trug Derviş dazu bei, Erdogan zunächst als „gemäßigten Islamisten“ weltweit hoffähig zu machen.
Diese Zeiten sind vorbei, Erdogans Ruf ist im In- und Ausland ruiniert. Am 14. Mai haben die türkischen Wähler die Möglichkeit, Erdogan die Quittung auszustellen für seine aggressive Außenpolitik, die Unterdrückung der Opposition, das Kapern der staatlichen Institutionen und die damit verbundene, erratische Finanz- und Wirtschaftspolitik, die die türkische Gesellschaft viel Wohlstand gekostet hat. Die Lage ist für die Opposition so ernst, dass übermorgen erstmals ein Alevit in das höchste Staatsamt gewählt werden könnte. Die Umfragen zeigen ein Kopf-an-Kopf-Rennen, und ich bin einigermaßen zuversichtlich, dass die Wahlen – anders als in Diktaturen wie China oder Russland – halbwegs fair ablaufen werden. Hinsichtlich einer friedlichen Machtübergabe bin ich weniger optimistisch, aber ein Sieg der Opposition wäre mit der Aussicht verbunden, die Türkei als Investment-Standort aus der Bedeutungslosigkeit zu heben. Aktuell macht der türkische Aktienmarkt nur 0,6 Prozent der Emerging Markets Benchmark von MSCI aus. Das könnte sich ändern. Kemal Derviş wird diesen möglichen Erfolg nicht mehr begleiten. Aber mit Ali Babacan bringt sich jemand als Wirtschaftsminister in Stellung, der einst als Edogans Wirtschaftsminiser Derviş‘ Roformprogramm erfolgreich umgesetzt hat.
Autor
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Baki war viele Jahre in leitender Funktion für den Deutsche Bank Konzern und DWS tätig. Zuletzt u.a. als Global Head of Digital Business für die Deutsche Asset & Wealth Management und Mitglied im Digital Executive Commitee der Deutschen Bank. Seine berufliche Laufbahn hat er als Fondsmanager für Technologie, Telekommunikation und Medien bei BHF Trust begonnen. Danach war er Fondsmanager bei der Commerzbank und ABN Amro.
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