Nach dem Beben: Wie steht es um Chinas EdTech-Markt?

13. Oktober 2023

China EdTech

Seit den verheerenden regulatorischen Eingriffen in den chinesischen EdTech Sektor sind mehr als zwei Jahre ins Land gegangen. Viele ehemals große Player mussten arg Feder lassen, einige haben sich radikal neu erfunden. Wie so etwas im chinesischen Kontext aussehen kann, wollen wir uns heute am Beispiel des Anbieters New Oriental Education genauer anschauen.

Am Anfang war die Regulierung

Mit der sogenannten Policy der Doppel-Reduktion 双减 nahm vor gut zwei Jahren die KPC den außerschulischen privaten Bildungssektor ins Visier. Schulbegleitende Trainingsprogramme hatten sich zu einer regelrechten Industrie entwickelt.  Im Juli 2021 veröffentlichten das Büro des Zentralkomitees der KPCh und das Büro des Staatsrats gemeinsam die „Meinungen zur weiteren Verringerung der Hausaufgabenbelastung von Schülern in der Phase der Pflichtschulbildung und der Belastung durch außerschulische Ausbildung“. Wie hochpolitisch diese Aktion war, kann man schon allein daran erkennen, dass das Bildungsministerium nicht an ihr beteiligt war. Im Kern ging es bei der “Doppel-Reduktion” um folgendes:

  • Private Anbieter von außerschulischen Trainingsprogrammen für K-9 (Kindergarten bis 9. Klasse) Fächer müssen sich als gemeinnützige (not-for-profit) Institutionen registrieren.
  • Gesetzliche Feiertage, Ruhetage und Sommer- und Winterferien dürfen nicht für außerschulische Schulungen genutzt werden.
  • Werbung für außerschulische Schulungen ist eingeschränkt.
  • Gebühren für außerschulische Schulungen werden staatlich reguliert.

 

Nach der Veröffentlichung der neuen Regeln mussten viele außerschulische Schulungsinstitute ihr Geschäft einstellen. Wie brutal der Einschnitt war, zeigten statistische Daten, die der Bildungsminister am 28. Oktober 2022 dem ständigen Ausschuss des Nationalen Volkskongresses vorlegte. Danach sank die Zahl der offline Bildungsinstitutionen für K-9 Fächer von 124.000 auf 4.932 , eine Reduktion von 96 Prozent. Die Zahl der Online-Anbieter sank von 263 auf 34, ein Minus von 87 Prozent. Dass die KP Chinas von dieser Politik auch in Zukunft nicht abrücken wird, haben wir jüngst daran gesehen, dass das Bildungsministerium im September Maßnahmen zur Verhängung von Verwaltungsstrafen für illegale außerschulische Nachhilfe erlassen hat. Im Wortlaut heißt es, dass das Ziel der neuen Bestimmung darin besteht, die Regulierung des außerschulischen Nachhilfeunterrichts zu verstärken und ihn zu einer sinnvollen Ergänzung zur schulischen Bildung zu machen.

Einige der größten börsennotierten Bildungsunternehmen Chinas haben ihre Belegschaft in den letzten drei Jahren um mehr als 80 Prozent reduziert. Die in den USA gelistete TAL Education Group, ein führender K-12 Anbieter von Nachhilfe, hat seine Vollzeitbelegschaft um 83 Prozent von 70.900 im Februar 2021 auf 11.700 im Februar dieses Jahres reduziert. New Oriental Education hatte einen Rückgang seiner Belegschaft um 33 Prozent (22.785 Angestellte) zwischen Mai 2020 und Mai 2022 zu verzeichnen. Die Anzahl der Mitarbeiter bei der Tochtergesellschaft East Buy (früher bekannt als Koolearn) verringerte sich in den zwei Jahren bis Mai 2022 um 87 Prozent. Mit 93 Prozent den größten Rückgang verzeichnete die Online Plattform für Englischunterricht 51Talk. Sie veräußerte ihr Geschäft auf dem chinesischen Festland im letzten Jahr, um sich voll und ganz auf ausländische Märkte zu konzentrieren.

Im Anschluss werden wir uns einen Überblick über die noch relevanten Marktsegmente verschaffen, die heute von den EdTech Unternehmen verstärkt ins Visier genommen werden.

China EdTech Downsizing

Die wundersame Neuerfindung von China EdTech

Nachdem die schulischen Pflichtfächer von den privaten Anbietern nicht mehr unreguliert und mit freier Preisgestaltung profitabel unterrichtet werden dürfen, hat sich ein Großteil der Branche auf die Nachfrage nach sogenannten “nicht-fachlichen Schulungen” (非学科类培训) konzentriert. Nicht-fachliche Schulungen umfassen hauptsächlich Trainings in Bereichen wie Sport, Kultur und Kunst, Technologie und anderen Bereichen der Persönlichkeitsentwicklung. 

Der Markt für Bildung im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung hat ein riesiges Potenzial in China. Laut Frost&Sullivan wuchs dieser Markt zwischen 2017 und 2019 mit einer CAGR von 21 Prozent. Im Jahr 2020 schrumpfte der Markt aufgrund der Pandemie zwar kurzzeitig, aber 2021 stabilisierte sich die Situation und der Markt erreichte ein Volumen von 79 Milliarden US-Dollar (+56 Prozent YoY). Das chinesische Marktforschungsunternehmen iResearch prognostiziert, dass das Segment Persönlichkeitsentwicklung 2023 ein Volumen von 111 Milliarden Dollar erreichen wird. 

Auch Beratungsdienste zum Auslandsstudium sind im Kommen. Seit dem Beginn von Chinas Politik der Reform und Öffnung im Jahr 1978 bis Ende 2021 haben laut dem Bildungsministerium rund 8 Millionen chinesische Studenten im Ausland studiert. Von 2006 bis 2019 stieg die Zahl der chinesischen Studenten im Ausland von 134.000 auf 704.000. Während des Studienvorbereitungs- und Bewerbungsprozesses sind die Eltern in der Regel bereit, hohe Gebühren zu zahlen. Die meisten Studierenden suchen in der Vorbereitungsphase Hilfe bei Studienberatungsagenturen, wie sie beispielsweise auch von New Oriental Education angeboten werden.

Mit der Ausweitung der Hochschulbildung hat die Zahl der Einschreibungen in der allgemeinen Erwachsenenbildung im Fach Englisch in China seit 2015 kontinuierlich zugenommen. Frost & Sullivan schätzen, dass im Jahr 2024 die Einschreibezahlen 6,1 Millionen erreichen werden, mit einer jährliche Wachstumsrate von 13 Prozent für den Zeitraum von 2015 bis 2024. Dies wird voraussichtlich den Bedarf im Markt für Englischschulungen für Erwachsene weiter antreiben. Aufgrund der erhöhten Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt nach Fachkräften und dem gesteigerten Bewusstsein der Öffentlichkeit hat der Markt für berufliche Weiterbildung und berufliche Prüfungsvorbereitung in China seit 2019 kontinuierlich zugenommen. Wir hatten über dieses Thema in einem Beitrag bereits Anfang Januar im Zusammenhang mit dem Börsengang von Fenbi berichtet. Es wird erwartet, dass im Jahr 2030 die Marktgröße für berufliche Weiterbildung 45 Milliarden Dollar und für berufliche Prüfungsvorbereitungen 65 Milliarden Dollar erreichen wird.

Große chinesische Bildungsunternehmen haben bereits seit Jahren über Tochtergesellschaften eine Expansion ins Ausland betrieben. Was früher eher als Nebenschauplatz galt, ist jetzt ein Lebensretter geworden. Der globale Markt für Chinesisch-Lernkurse ist nicht nur auf Chinesen im Ausland beschränkt. Neben dem Sprachtraining gibt es auch Angebote in Mathematik, Naturwissenschaften, Kunst und Musik.

Think Academy, eine Tochtergesellschaft von TAL Education Group, verzeichnete im Geschäftsquartal bis November 2022 ein dreistelliges Wachstum im Jahresvergleich. Das Unternehmen sieht „erhebliches Marktpotenzial“ im Ausland, sagt der CFO der Tal Education Group. Die oben bereits erwähnte Sprachlernplattform 51Talk hat ihr Geschäft in China im Juni 2022 abgestoßen und bietet nun ausschließlich Online-Englischunterricht für K-12 und Studenten in Ländern außerhalb Chinas an. Das an der US-Börse gelistete Unternehmen sagte, dass sich sein Nettoeinkommen 2022 mehr als verdoppelt habe.

Fallbeispiel New Oriental Education

Der wohl mit Abstand krasseste Pivot ist einem Tochterunternehmen von New Oriental Education gelungen. Die ehemalige Online-Learning Plattform Koolearn hat sich auf East Buy umgetauft. Das neue Geschäftsfeld ist die in China äußerst beliebte Spielform des E-Commerce im Wege des Live-Streaming. Gleich im Dezember 2021 wagte es sich in den Online-Verkauf von landwirtschaftlichen Produkten über Live-Streaming, wobei sein Gründer Yu Minhong gelegentlich die Sessions selbst moderierte. Anfänglich waren die Verkaufszahlen des Unternehmens noch recht mau, doch dann begannen seine Moderatoren, ehemalige Lehrer von New Oriental, die Sessions auch zum Englischunterricht für die Zuschauer zu nutzen. Das war der Durchbruch. Im letzten Finanzjahr setzte das Unternehmen 4,5 Milliarden Yuan um und war darüber hinaus zum ersten Mal seit vier Jahren wieder profitabel. 

Der mit knapp 11 Milliarden Dollar Marktkapitalisierung größte Player im chinesischen EdTech Segment ist New Oriental Education 新东方. Gegründet im Jahr 1993, hat das Unternehmen mit seinem legendären Gründer Yu Minhong 俞敏洪 jetzt diverse Geschäftsbereiche unter einem Dach, einschließlich allgemeiner Bildung, internationaler Bildung, Erwachsenenbildung, digitaler Bildung, Literatur und kreativem Schreiben, Hardware-Produkte sowie Livestream-Ecommerce. Es gilt als das umfassendste und bekannteste Bildungsunternehmen in China. 

Nach der Einführung der „Doppel-Reduktion“ musste das Unternehmen einen massiven Rückgang seiner physischen Standorte erleben. Zwischen dem vierten Quartal 2021 und dem ersten Quartal 2023 (Anmerkung: das Geschäftsjahr endet für New Oriental Education am 31.Mai) schrumpfte die Anzahl der Bildungseinrichtungen und Lernzentren des Unternehmens von 1669 auf 706. Doch dank der erfolgreichen Entwicklung in den Bereichen Persönlichkeitsentwicklung, Erwachsenenbildung und berufliche Bildung hat das Unternehmen im zweiten Quartal 2023 eine Trendwende erlebt. Bis zum vierten Quartal 2023 wuchs die Anzahl der Bildungseinrichtungen und Lernzentren beständig weiter auf 748.

China EdTech Trainingszentren

New Oriental Education setzt auf außerschulische Angebote. Sie sind in zwei Kategorien unterteilt: Persönlichkeitsentwicklung und Fachkompetenz. Im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung gibt es Kurse wie Schauspiel, Rhetorik und kognitive Fähigkeiten. Die Fachkompetenz-Kurse konzentrieren sich hauptsächlich auf das Lernen von Programmiersprachen und Robotik. Hier kommt dem Unternehmen seine Vergangenheit als Marktführer im K-12 Bildungsbereich zugute, da es über fundierte pädagogische Forschungs- und Entwicklungsressourcen sowie betriebliche Erfahrung verfügt. Dank seines hohen landesweiten Bekanntheitsgrades hat New Oriental Education einen natürlichen Vorteil bei der Expansion in den außerschulischen Bildungsbereich. Bis zum vierten Quartal des Geschäftsjahres 2023 hat das Unternehmen seine außerschulischen Bildungsangebote in rund 60 Städten ausgerollt und im letzten Quartal etwa 629.000 Studenten registriert: ein Wachstum von 188 Prozent im Vergleich zum Vorquartal.

Bereits bei seiner Gründung im Jahr 1993 bot das Unternehmen TOEFL-Vorbereitungskurse für Studierende an, die im Ausland studieren möchten. 1996 wurde dann ein Tochterunternehmen gegründet, das sich ausschließlich auf Auslandsstudien-Services konzentriert und ein Rundum-sorglos-Paket anbietet. Den offiziellen Unternehmensdaten zufolge hat die Firma derzeit über 1.500 Mentoren im Bereich Auslandsstudien, die insgesamt Universitäten und Hochschulen in 22 Ländern und Regionen abdecken. Sie bedienen Schüler und Bachelor- und Masterstudenten. Bis Juni 2022 haben sie bereits über 43.000 Zulassungsangebote von Hochschulen unter den Top 200 des QS-Rankings für ihre Schüler erlangt.

Im Geschäftsfeld Universität konzentriert sich New Oriental Education auf die akademischen Bedürfnisse von Studenten und bietet eine Vielzahl von Kursen an, wie zum Beispiel Vorbereitungen für verschiedene Prüfungsniveaus, Studium im Ausland, berufliche Prüfungen und Ähnliches. Durch das standardisierte OMO-Digital-Klassenzimmer-System (Offline-Merge-Online) kann das Unternehmen physische Lehrmaterialien und Bildungsressourcen digitalisieren. Dies ermöglicht es dem Unternehmen, den Studierenden kombinierte Online- und Offline-Kurse anzubieten, den gesamten Lernfortschritt der Studierenden zu verfolgen und so die Lehrqualität zu verbessern.

China EdTech New Oriental

Fazit: China EdTech hat (noch) eine Chance

Seit der Einführung der Politik der „Doppel-Reduktion“ erlebte New Oriental Education fünf Quartale in Folge Umsatzrückgänge. Ab Q3 2022 begann der Umsatz wieder langsam zu wachsen. Im letzten Quartal betrug der Umsatz des Unternehmens 861 Millionen Dollar, was einem Anstieg von 64 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht.

China EdTech New Oriental Ertraege

Bei der Bruttogewinnmarge sieht es sogar noch erfreulicher aus. Vor der Doppel-Reduktion lag die Bruttogewinnmarge des Unternehmens zumeist um die 50 Prozent. Danach fiel sie in 2022 auf 25 Prozent. Im Q4 2023 betrug die Bruttogewinnmarge des Unternehmens bereits wieder 54 Prozent.

China EdTech New Oriental Marge

In 2022 verzeichnete das Unternehmen zwischen Q2 2022 und Q4 2022 in jedem Quartal erhebliche Verluste beim bereinigten (Non-GAAP) Nettogewinn. Mit dem Abschluss der Geschäftsumstrukturierung konnte das Unternehmen ab Q1 2023 wieder Gewinne vorweisen. Von Q1 bis Q4 2023 betrug der (non-GAAP) bereinigte Gewinn jeweils 84 Millionen Dollar, 18 Millionen Dollar, 95 Millionen Dollar und jüngst 62 Millionen Dollar.

Daneben hat das Unternehmen auch weiterhin ausreichend Bargeld in den Büchern. Bis Q4 2023 verfügte das Unternehmen über Bargeld und bargeldäquivalente, kurzfristige Investitionen und Termineinlagen in Höhe von insgesamt 4 Milliarden Dollar. Seit Q4 2022 ist auch der Netto Cashflow wieder positiv und erreichte 29 Millionen Dollar. Diese Erholung hat sich fortgesetzt und im Q4 2023 erzielte das Unternehmen einen Netto Cashflow von 422 Millionen Dollar.

Wie man am Beispiel von New Oriental Education sehen kann, haben sich die chinesischen Unternehmerpersönlichkeiten voll und ganz den Herausforderungen durch die neuen operativen Bedingungen gestellt. Ihre Resilienz angesichts der brutalen Regulierungswut ist bemerkenswert. Etliche EdTech Player sind heute nicht wiederzuerkennen. Nach zwei Jahren der Geschäftsanpassung sehen wir, dass die führenden Unternehmen der Branche bereits eine klar definierte Ausrichtung für ihre Geschäftsentwicklung erarbeitet haben. Auch die Finanzdaten zeigen, dass der Tiefpunkt überwunden wurde und eine Wende zum Positiven stattfindet. Die Aktien von New Oriental sind dieses Jahr bereits um 85 Prozent gestiegen und werden derzeit mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (P/E) von 64 gehandelt. Ein Schnäppchen ist die Aktie also nicht, aber die mutigen Investoren, die durch dick und dünn an an ein Revival der Branche geglaubt haben, sind belohnt worden. Klar ist aber auch, dass es spannend bleibt, die Branche und einige ihrer exponierten Vertreter in Zukunft weiter im Auge zu behalten. Das Tal der Tränen ist durchschritten.

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Disclaimer

Dieser Beitrag stellt eine Meinungsäußerung und keine Anlageberatung dar. Bitte beachte die rechtlichen Hinweise.

Autor

  • Mirko Wormuth

    Mirko war 23 Jahre lang in China als Anwalt und Unternehmer tätig. Zuletzt war er Global Head of HR für das chinesische EV Startup BYTON in Nanjing. Davor lagen seine unternehmerischen Tätigkeiten im Bereich des chinesischen E-Commerce und Einzelhandels. Seit 2020 managt Mirko den auf die chinesische Digitalisierung spezialisierten “China Digital Leaders” Fonds.

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Mirko Wormuth

Mirko war 23 Jahre lang in China als Anwalt und Unternehmer tätig. Zuletzt war er Global Head of HR für das chinesische EV Startup BYTON in Nanjing. Davor lagen seine unternehmerischen Tätigkeiten im Bereich des chinesischen E-Commerce und Einzelhandels. Seit 2020 managt Mirko den auf die chinesische Digitalisierung spezialisierten “China Digital Leaders” Fonds.

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