Anleihen 2023: Das kollektive Versagen der Bond-Gurus

29. November 2023

Anleihen 2023

Die Kurse von Anleihen bescheren Anlegern ein Wechselbad der Gefühle. Auf den großen Crash 2022 folgte in diesem Jahr eine Berg- und Talfahrt. Weil die Zinsmärkte als Indikatoren für die Konjunktur- und Inflationserwartungen der Anleger gelten, rätseln Experten, was uns Kurse und Kurven heute sagen. Die Geschichte einer kollektiven Verwirrung.

Wer glaubt, dass Anleihen langweilig seien und alle Spannung in Aktienkursen stecken, ist in den vergangenen zwei Jahren eines Besseren belehrt worden. Seitdem die Inflation zurück ist und die Notenbanken eine geldpolitische Vollbremsung vollzogen haben, liefern die Anleihenmärkte Drama pur. Seit Ende November 2021 stieg die Rendite der richtungsweisenden zehnjährigen US-Staatsanleihen von 1,34 auf 4,4 Prozent. Das klingt harmlos, aber es waren Verluste historischen Ausmaßes: Das Minus lag bei knapp 32 Prozent. 

Anleihen Verluste 2 Jahre
Performance in Prozent und US-Dollar, Daten per 28.11.2023, Quelle: Morningstar

Die Gründe für die massiven Verluste sind mannigfaltig. An erster Stelle steht der Inflationsanstieg, auf den massive Zinserhöhungen folgten. Ende 2022 gingen die Auguren fast unisono von einer Rezession 2023 aus. In diesem Jahr erholten sich entsprechend zunächst die Kurse bis Ende Mai (leicht). Doch dann zogen die Renditen wieder an, und Anleihen brachen im bis Mitte Oktober erneut ein. Zum Vergleich: Der MSCI World lieferte nur zwischenzeitlich Dramatik. Er trat (auf Dollarbasis) seit Ende November 2021 mit einem Minus von weniger als einem Prozent auf der Stelle.  

Das Hin und Her an den Anleihenmärkte in diesem Jahr wird im Renditeverlauf zehnjähriger US-Staatsanleihen weiter unten illustriert. Die Renditen der zehnjährigen Anleihen gingen bei 3,5 Prozent ins neue Jahr, fielen dann auf 3,3 Prozent im Mai, um dann schnurstracks bis Mitte Oktober auf gut 4,9 Prozent zu steigen, das höchste Niveau seit 2007. Aktuell rentieren die richtungsweisenden Papiere mit 4,3 Prozent. (Anleihenrenditen und -Kurse stehen in einem inversen Verhältnis zueinander.)

Rendite in Prozent, Daten per 28.11.2023, Quelle: Yahoo Finance

Was uns die Renditekurve verrät

Die Renditen an den Anleihemärkten sind eigentlich keine Random-Veranstaltung, ganz im Gegensatz zu kurzfristigen Aktienrenditen, die nach dem allgemeinen Konsens kurzfristig nur wild hin- und herspringen. Anleihenanleger gelten dagegen als nüchterne Mathematiker, die im Gegensatz zu den über-optimistischen Aktienanlegern einen rationalen Blick auf die Märkte behalten. Um das verständlich zu machen, müssen wir ein paar Worte zu den zugeschriebenen Eigenschaften der Anleihenmärkte verlieren. Wir kommen deshalb zur sogenannten Zinsstrukturkurve. Sie visualisiert die Beziehung zwischen den Renditen der verschiedenen Laufzeiten von Anleihen an einem bestimmten Tag. Die Kurve bildet eine Linie zwischen den einzelnen Laufzeiten. In den USA verläuft die Kurve von (geldmarktnahen) Drei-Monatspapieren bis hin zu langlaufenden 30-jährigen Anleihen.

Die kurzfristigen Renditen – grob gesagt: von null bis sechs Monaten – werden weitgehend von der Notenbankpolitik bestimmt. Daher entsprechen die ganz kurzlaufenden Renditen typischerweise dem Leitzinsniveau, den eine Zentralbank festlegt. Je länger die Laufzeiten sind, desto mehr diffundiert die „Verantwortung“ für die Rendite. Whodunnit, wenn sich die Renditen, sagen wir, 30-jähriger Anleihen bewegen? Die Marktzinsen spielen eine Rolle, ebenso wie die Inflations- und Wachstumserwartungen für die Wirtschaft, das Kreditrisiko und die Liquidität des Marktes. Seit Beginn der lockeren Geldpolitik nach der Finanzkrise sind die Zentralbanken auch in anderer Hinsicht ein wichtiger Akteur am Zinsmarkt geworden: Mit den Anleihenkäufen und Forward Guidance beeinflussen die Notenbanken auch länger laufende Zinsen. Auf die Spitze getrieben hat es die Bank of Japan, die mit ihrer “Yield Curve Control”-Politik sogar die Renditen zehnjähriger Anleihen “gedeckelt” hat.   

Halten wir also fest, dass die Renditen von länger laufenden Anleihen viele Väter haben. Aber was verrät uns der Verlauf der Zinskurve? Idealtypisch weist die Zinsstrukturkurve bei einer brummenden Wirtschaft und optimistischen Anlegern nach oben. Man spricht dann von einer steilen Kurve. Dann haben Anleihen mit kürzeren Laufzeiten niedrigere Renditen und Anleihen mit längerer Laufzeit höhere. Das ist logisch: Wer eine optimistische Konjunkturprognose hat, erwartet langfristig steigende Zinsen, weil das der typischen Gleichgewichtspolitik der Notenbanken entspricht. Sie erhöhen bei einer Konjunkturüberhitzung die Zinsen, um die Nachfrage zu dämpfen und die wirtschaftlichen Aktivitäten zu verlangsamen.

Allerdings ist die Renditekurve nicht statisch. Die Form der Renditekurve ändert sich ständig mit dem Auf und Ab auf dem Anleihenmarkt. Das liegt vor allem an den Fluktuationen am mittleren und längeren Ende der Kurve und hängt auch von den sich ändernden Erwartungen der Anleger und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ab. Nähern sich die Renditen kürzerer und längerfristiger Anleihen an, spricht man von einer „Verflachung“ der Kurve. Kippt die Kurve und rentieren kurzlaufende Anleihen höher als längerfristige, spricht man von einer inversen Zinsstrukturkurve. Was bedeutet das?

Verflacht die Zinsstrukturkurve, deutet das darauf hin, dass Investoren in Zukunft niedrigere Zinsen erwarten als heute. Das signalisiert eine Phase der Konjunkturschwäche. Im schlimmsten Fall wird aus einer flachen eine inverse Zinskurve. Das wird als Vorbote einer Rezession gedeutet, weil dann mit künftig niedrigen Zinsen gerechnet wird. In den USA ist der Spread zwischen den Renditen von zweijährigen und zehnjährigen Treasuries der wichtigste Indikator für das Konjunktursentiment von Anleiheninvestoren, aber Anleger achten auch auf den Abstand zwischen 10- und 30-jährigen Treasuries. Die Inversion der Zinskurve gilt als verlässlicher Indikator für eine hohe Eintrittswahrscheinlichkeit einer Rezession, wobei reale Renditen ein verlässlicheres Bild liefern als die üblicherweise verwendeten nominalen Renditen.

Eine historische Kurvendiskussion von 2007 bis heute

Aktuell ist die Zinskurve in den USA invers. Kurzlaufende Zinsen werfen deutlich mehr ab als länger laufende. Sechsmonatige Papiere warfen am 27.11. eine Rendite von 5,45 Prozent ab, zweijährige Treasuries rentierten mit 4,84 Prozent, während zehnjährige einen Rendite von 4,39 Prozent aufwiesen. 30-Jährige Treasuries rentierten am 27.11. mit 4,53 Prozent. Das Bild ist also nicht ganz eindeutig – zumal die Zinskurve im Mai dieses Jahres deutlich stärker invertiert war, wie der untere Vergleich zeigt zwischen der Zinskurve heute und Ende Mai zeigt. Seinerzeit waren Anleger offenkundig von mehr Pessimismus geprägt als heute. Vielleicht sind ja einige Pessimisten von damals umgeschwenkt und erwarten nun doch keine Rezession mehr? Aber dazu mehr weiter unten. 

Anleihen im Vergleich

Kommen wir nun zur der Zinskurve Ende November in den Jahren 2023, 2022 und 2020. Die beiden oberen Kurven zeigen die bereits oben gezeigte inverse Zinskurve, während am 24. November 2020 Anleger noch einem optimistischen Konjunkturszenario nachhingen, auch wenn wir damals inmitten der Corona-Rezession waren. Während die vordere Kurve die Nullzins-Politik der Fed widerspiegelte, rentierten seinerzeit die 10-jährigen Papiere höher, und am meisten brachten die 30-jährigen Papiere mit (sehr mageren) 1,6 Prozent ein. Das passt ins damalige Bild: Die Coronakrise war nicht überwunden, wohl aber hatten die ersten US-Konjunkturhilfen gegriffen, und im November gab es erstmals eine Aussicht auf effektive Covid-Vakzine, was Anleger weltweit in Euphorie versetzt – offenbar auch die notorisch pessimistischen Bond-Anleger.

Anleihen Grafik

Ein finaler Blick auf die US-Zinskurve in diesen Tagen im Vergleich zur Zinskurve Ende November 2007, also bevor die große Finanzkrise losbrach. Sie zeigt einen recht steilen Verlauf für 2007. Die Kurve Ende November ließ nicht erahnen, dass nur wenige Monate später die Finanzwelt am Abgrund stehen würde.

Anleihen 2023 vs 2007

Zinsszenarien durchgespielt: Was glauben die Märkte?

Versuchen wir nun, ausgehend von der diesjährigen erratischen Richtung der Anleihenmärkte, einige Ideen über die mögliche künftige Renditeentwicklung und welche Szenarien ihnen zugrunde liegen könnten zu spinnen. Fangen wir an mit einem möglichen weiteren Rückgang der Renditen am Anleihenmarkt. Was spricht dafür? Zum einen der Inflationsrückgang. Aktuell geht die Teuerungsrate deutlich zurück. In den USA lag sie im Oktober bei 3,2 Prozent. Auch die Kerninflation war mit 4,0 Prozent rückläufig.

Daten zeigen Inflationssteigerung gegenüber dem Vorjahresniveau, Quelle: Statista

Sinkende Inflationserwartungen drücken auf die Renditen länger laufender Anleihen, einmal weil damit der Handlungsdruck auf die Fed abnimmt, da sich das Wirtschaftswachstum mutmaßlich abschwächen wird. Diesem Szenario stehen allerdings die konstant niedrige Arbeitslosigkeit sowie das starke Wirtschaftswachstum entgegen – das BIP-Plus in den USA lag im dritten Quartal annualisiert bei 5,2 Prozent. Damit diese Zahl in das Bärenmarktszenario passt, müsste man unterstellen, dass Anleger aufgrund der Zinserhöhungen der vergangenen 18 Monaten noch immer mit einer Rezession rechnen. 

Doch die Bewegungen der letzten Wochen zeigen, dass es auch in die andere Richtung gehen könnte. Was könnte einen möglichen Renditeanstieg von aktuell 4,4 Prozent wieder in Richtung alte Jahreshöchststände von rund fünf Prozent erklären? In einer Zeit, in der die Fed „datengetrieben“ agiert, könnte ein Wiederanstieg der Inflation die Renditen wieder in Richtung alte Höchststände treiben. Das ist nicht so unwahrscheinlich, wie es heute scheint: Ein Anstieg der Energiepreise, die sich in diesem Jahr relativ moderat entwickelt haben, könnte die Teuerung erneut anheizen. 

Auch starke Daten von der Konjunkturseite, etwa in Gestalt weiter sinkender Arbeitslosigkeit und steigendem Wirtschaftswachstum, könnte bei der Fed die “Higher for Longer”-Linie verfestigen. Die Notenbank-Politik selbst könnte angesichts des starken Wirtschaftswachstums dazu beitragen, ein neues Äquilibrium an den Bond-Märkten zu etablieren, also die strukturelle “neutral Rate” nach oben zu drücken. Die Aussicht auf ein höheres Potenzialwachstum infolge von KI-basierten Innovationen könnte ebenfalls dazu beitragen, die Überzeugung zu verankern, dass höhere Zinsen das “New Normal” sind

Eine weniger optimistische Deutung könnte das steigende Angebot sein. Ein Haushaltsdefizit von über sieben Prozent des BIP, das in den nächsten Jahren nicht kleiner werden dürfte, bedeutet, dass das Angebot an Treasuries hoch ist und hoch bleiben wird. Zumal sich die US-Notenbank nicht nur in der Zinspolitik im Tightening-Modus befindet: Die Kaufprogramme für US-Staatsanleihen wurden längst beendet, und die Fed ersetzt auch nicht die fällig werdenden Anleihen, die aus ihrem “QE-Bestand” herausrollen – ganz im Gegensatz zur EZB.

Fehlsignale oder warum man nicht zu oft „Feuer“ rufen sollte

Angesichts der vielen widersprüchlichen Signale der Anleihenmärkte, die sich weder für einen Konjunkturaufschwung noch einen -abschwung entscheiden können, lohnt es sich, zum Abschluss einen Mythos auf den Prüfstand zu stellen: die vermeintlich prognostische Kraft der Bond-Anleger. Wir haben bereits oben von den Signalen einer inversen Zinskurve gesprochen. Eine inverse Zinskurve gilt nach dem allgemeinen Verständnis als Signal für eine kommende Rezession. Tatsächlich gingen den Rezessionen der vergangenen Jahrzehnte stets eine Inversion der Zinskurve voraus. Dass die Zinskurve seit über 18 Monaten invers ist, spricht für eine eher pessimistische Sicht der Dinge.

Aber das ist nicht ausgemachte Sache. Denn der Umkehrschluss gilt nicht: Nicht auf jede Zinskurveninversion folgte eine Rezession. Beispiele gibt es einige: In den späten 1990-er Jahre invertierte die US-Zinskurve – ohne dass zunächst eine Rezession folgte. 2005/6 entpuppte sich die inverse Zinskurve ebenfalls als Fehlsignal, wie auch 2019 sowie ab 2022. Heute, nach rund 18 Monaten permanenter Zinskurveninversion, sickert diese Erkenntnis offenkundig bei den Profis durch. Mit anderen Worten: Bond-Anleger haben in den vergangenen zwei Jahren viel dazu beigetragen, das Konjunktur-Sentiment an den Märkten zu drücken. Wer entsprechend Ende 2022 Aktien in Erwartung einer Rezession verkauft hat, schaut heute in die Röhre. Dieser Anlegergruppe haben die Bond-Gurus einen Bärendienst erwiesen (pun intended). 

Immer mehr Bären werfen das Handtuch. Erst kürzlich hat sich Goldman Sachs mit einem “neutralen” (lies: optimistischen) Konjunkturausblick für 2024 hervorgewagt – wie einige andere Investmentbanken auch. Es hat fast den Anschein, als wären Anleger schlicht müde geworden, eine Rezession in den USA vorherzusagen, derweil der Konjunkturmotor brummt und brummt und brummt. Die Perma-Bären haben derzeit keine Konjunktur, egal, was die Bond-Gurus an komplexen Deutungen hervorbringen.

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Dieser Beitrag stellt eine Meinungsäußerung und keine Anlageberatung dar. Bitte beachte die rechtlichen Hinweise.

Autor

  • Ali Masarwah

    Ali Masarwah ist Gesellschafter-Geschäftsführer der Fondsplattform envestor.de und schreibt auch Kolumnen über Investmentthemen für The Digital Leaders Fund. Anleger-orientiertes Research ist seit über 20 Jahren Alis Ding. Vor seiner Zeit bei envestor.de war er zehn Jahre lang bei Morningstar, wo er für die Personal Finance Websites des Analysehauses in Deutschland verantwortlich war. Als Experte für Anlagethemen ist er ein gefragter Ansprechpartner für Finanzmedien im deutschsprachigen Raum.

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Ali Masarwah

Ali Masarwah ist Gesellschafter-Geschäftsführer der Fondsplattform envestor.de und schreibt auch Kolumnen über Investmentthemen für The Digital Leaders Fund. Anleger-orientiertes Research ist seit über 20 Jahren Alis Ding. Vor seiner Zeit bei envestor.de war er zehn Jahre lang bei Morningstar, wo er für die Personal Finance Websites des Analysehauses in Deutschland verantwortlich war. Als Experte für Anlagethemen ist er ein gefragter Ansprechpartner für Finanzmedien im deutschsprachigen Raum.

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