Brasilien Aktien: Der Kampf um die Zinsen

15. Juni 2023

Der neue Präsident Lula ist seit knapp sechs Monaten im Amt. Eine gute Gelegenheit, sich die Wirtschaftsbilanz des Wieder-Präsidenten, das Ergebnis der öffentlich ausgetragenen Meinungsverschiedenheit mit dem Zentralbankpräsidenten sowie die Implikationen für die brasilianischen Digitalwerte im EMDL anzuschauen.

Wie wir in unserem letzten Beitrag zu Brasilien Aktien im November berichtet haben, hatte der Markt zunächst nervös auf das Wahlergebnis reagiert. Dann begannen trotz schlechter Nachrichten die Kurse zu steigen. Was ist passiert?

Lulas Sorgen

Während der beiden ersten Amtszeiten führte der Rohstoffboom zu prall gefüllten Kassen. Das erlaubte Lula, mit massiven Umverteilungsprogrammen, 36 Millionen Brasilianer aus extremer Armut zu befreien. 

So einfach hat es Lula diesmal nicht, und die Armut ist wieder da. Die Pandemie hat dazu geführt, dass 19 Millionen Brasilianer hungern mussten. Lula hat eine ganze Reihe von Programmen wieder aufgenommen, die sozial schwachen Haushalten finanzielle Hilfe gewähren. Das 6-Prozent-Budgetdefizit des Staates erlaubt aber keine großen Sprünge.

Außerdem hat Lula 3.0 mit einer konservativen Mehrheit im Kongress zu kämpfen und bei weitem nicht mehr die Popularität als zu Zeiten seiner ersten (2002-2006) und zweiten (2006-2010) Amtsperiode.

Erfreulich: Beim Wahlversprechen, den Regenwald zu schützen, gab es Fortschritte. In den ersten fünf Monaten 2023 wurden mit 1989 Quadratkilometern 31 Prozent weniger Wald gerodet, als im Jahr zuvor. Außerdem verhängte die Regierung 406 Millionen Dollar an Strafen. Die konservative Mehrheit im Senat hat eine Reihe von Gesetzen erlassen, um die Aktivitäten des Präsidenten beim Umweltschutz zu beschneiden. Lula gibt nicht auf: Er hat einen Plan angekündigt, die Abholzung bis 2030 zu beenden.

Außenpolitisch hatte Lula einen durchwachsenen Start. Im Ukraine-Krieg hält sich der brasilianische Präsident zum Unwillen der westlichen Industriestaaten mit der Unterstützung der Ukraine zurück. Lula beharrt auf Brasiliens neutraler Position. 

Aber es geht um mehr: Die brasilianische Landwirtschaft erwirtschaftet rund ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts und knapp die Hälfte der Exporte. Dafür importiert Brasilien 85 Prozent des weltweit größten Bedarfs an den Düngemitteln Nitrogen, Phosphorus und Potassium; Russland ist der größte Exporteur. Die Politik Brasiliens wird also zumindest teilweise von wirtschaftlichen Notwendigkeiten gesteuert.

Gestützt wird diese Haltung von vielen anderen Volksvertretern des Globalen Südens, die den Machenschaften der früheren Kolonialherren oft misstrauisch gegenüberstehen.

Mit der Aussage, auch Selensky trage eine Schuld am Krieg und müsse den Verlust der Krim akzeptieren, lehnte sich Lula aber dann doch zu weit aus dem Fenster und musste zurückrudern. Politisch zweifelhaft war ebenso das Treffen mit dem venezolanischen Diktator Maduro, den Lula als „Companero“ (Deutsch: Gefährte, Freund) bezeichnete. Der von Lula aufgewärmte Vorschlag einer gemeinsamen Währung für den Freihandelsraum Mercosur (Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay) dürfte ein Traum bleiben.

Für unseren Kontext noch relevanter ist aber ein weiterer Fehler Lulas:

Der Kampf um die Geldpolitik

Die brasilianische Zentralbank agierte bereits ab März 2021 „ahead of the curve“: Von anfänglich zwei Prozent wurde der Leitzins SELIC insgesamt 12 Mal erhöht. Der Zyklus war bereits im Sommer 2022 mit einem Zinssatz von 13,75 Prozent abgeschlossen.

Die Inflationsbekämpfung hat gut funktioniert. Die brasilianische Inflation fiel von ihrem Peak im zweiten Quartal 2022 von rund 12 Prozent auf zuletzt unter vier Prozent, dem Niveau von 2020.

Brasilien Aktien - Inflation
Inflation in Brasilien seit 2020

Die hohen Zinsen haben Zinsjäger und Sammler angelockt und die Währung seit der Wahl gegenüber dem Dollar um über fünf Prozent erstarken lassen. Alles gut also? Mitnichten!

Das Inflationsziel der Zentralbank für 2023 liegt bei 3,25 Prozent und ist aktuell damit noch nicht erreicht. Ab dem nächsten Jahr ist das Ziel mit maximal drei Prozent noch ambitionierter.

BIP Wachstum Brasilien
BIP Wachstum Brasilien

Das Wachstum ist seit Jahren anämisch. Die hohen Zinsen haben dieses Problem noch einmal verschärft. Im letzten Quartal 2022 schrumpfte die Wirtschaft sogar um 0,1 Prozent. Im ersten Quartal 2023 gab es allerdings ein überraschendes Plus von 1,9 Prozent.

Neben der stagnierenden Wirtschaft wird die pandemiebedingte Verschuldung jetzt zum Problem. Die Verschuldung der privaten Haushalte ist von 30 Prozent auf 34,2 Prozent des BIP gestiegen. Die gestiegenen Kreditzinsen, teilweise über 50 Prozent, sind für viele nicht zu verkraften. Kein Wunder: Der Anteil der faulen Kredite ist von rund vier Prozent auf zuletzt 6,17 Prozent gestiegen.

Auch der Staat muss für seine Ausgaben mehr berappen. Die Staatsverschuldung liegt rund drei Prozentpunkte höher als vor der Pandemie bei 57,2 Prozent des BIP. Rund ein Viertel der Staatsausgaben gehen aktuell an die Gläubiger. Das ist allerdings in Brasilien historisch gesehen nichts Neues. Zudem ist dieser Wert deutlich besser als in vielen Industrieländern, wo die Schulden über 100 Prozent des BIP liegen. 

Das größte Problem: die Firmenpleiten nehmen zu. Verlässliche Zahlen gibt es nicht, aber die Pleite des Retailers Americanas hat das Problem prominent ins Lampenlicht gerückt. Die Banken drehen aus Angst den Geldhahn zu und fordern höhere Risikoaufschläge.

Realzinsen Chart weltweit Brasilien Aktien
Reale Zinssätze weltweit

Die Grafik macht es deutlich: Brasilien hat heute mit rund acht Prozent den höchsten Realzins der Welt. So ist es kaum verwunderlich, dass sich der Wieder-Präsident Lula niedrigere Zinsen wünscht. Lula argumentierte im Februar, dass das Inflationsziel der Zentralbank unnötig niedrig sei und bezeichnete deren Politik als peinlich.

Lula argumentierte: “Es gibt keinen Grund, warum der Zinssatz bei 13,75 Prozent liegen sollte. Will Zentralbankchef Campos Neto europäische Inflationsstandards erreichen? Wir müssen einen brasilianischen Standard erreichen. Eine Inflationsrate von 4,5 Prozent in Brasilien oder vier Prozent ist eine gute Sache, wenn die Wirtschaft wächst.“

Lula ging aber noch einen Schritt weiter und verschreckte damit die Märkte:“Geht es diesem Land gut? Wächst dieses Land? Verbessert sich das Leben der Menschen? Nein. Ich möchte also wissen, wozu die Unabhängigkeit gut war.“ Und: „Ich werde warten, bis der Bürger (Bankpräsident Roberto Campos Neto) sein Mandat beendet hat, damit wir eine Bewertung vornehmen können, was die unabhängige Zentralbank gebracht hat.“

Damit verschreckte Lula die Märkte. Die Breitseite auf den vom Vorgänger Bolsonaro eingesetzten Zentralbankpräsidenten mit Mandat bis Ende 2024 ging nach hinten los, die Märkte preisen höhere Inflations- und Zinserwartungen ein.

Der ehemalige Trader Campos Neto reagierte prompt: In einem zweistündigen Fernsehinterview mit sechs Journalisten verteidigte Campos seine Politik: Er wünsche sich ein gutes Verhältnis mit dem Team Lula. Gleichzeitig weigert er sich, die Zinsen zu senken oder das Inflationsziel zu erhöhen: Die höhere Inflation würde vor allem die Armen treffen.

Das Kalkül ging auf: Lula zeigte sich versöhnlich: Der Präsident Brasiliens sollte nicht mit dem Zentralbankchef streiten. Der Markt beruhigte sich daraufhin. Campos Neto wird als Bollwerk der Stabilität gesehen.

Lula hat dagegen mit dem Kreuzzug gegen die Zentralbank politisches Kapital verspielt. Sein Approval Rating fiel trotz des etwas besseren Wirtschaftswachstums im ersten Quartal auf zuletzt 37 Prozent.

Am Montag hat Campos Neto aber jetzt einen Kurswechsel angedeutet. Die Reduktion in der Zinskurve um bis zu 300 Basispunkte würde bezeugen, dass der Markt der Arbeit der Notenbank Vertrauen schenkt. Das würde Spielräume eröffnen. Ganz bescheiden verwies der Enkel des gleichnamigen Mitbegründers der Zentralbank darauf, dass er bei der Entscheidung aber nur eine von neun Stimmen habe (Das Suffix Neto heisst übrigens im brasilianischen Enkel und wird für Personen mit demselben verwendet, die denselben Namen wie ihr Großvater tragen).

Der Markt preist aktuell einen potentiellen Schritt im August oder September ein. Am Jahresende wird ein Zinsniveau von 12 Prozent erwartet.

Gut sind vor diesem Hintergrund die zuletzt rückläufigen Inflationszahlen aus den USA, da sie ein mögliches Ende des Zinszyklus begünstigen. Das würde die Beinfreiheit der brasilianischen Zentralbank noch einmal deutlich vergrößern.

Auswirkungen auf die Digitalen Gewinner in Brasilien

Die Zinserwartungen sinken, und das ist gut für Aktien. Der brasilianische Leitindex Bovespa hat in diesem Jahr um 6,9 Prozent zugelegt. Nach den schwierigen Jahren 2021 und 2022 haben wir aber vor allem bei digitalen Geschäftsmodellen steigende Aktienkurse verzeichnen können.

Auch die Holdings des EMDL haben profitiert. Die Nubank Aktie gewann 87 Prozent. Die Mercadolibre Aktie konnte um 46 Prozent zulegen. Die Aktie des Asset Managers XP legte um 38 Prozent zu. Der Payment-Spezialist PagBank (vormals Pagseguro) liegt aktuell 16 Prozent im Plus. Einzig CPaaS Anbieter Zenvia (Minus 31 Prozent YTD) wartet auf den großen Sprung. Zur Einordnung: Trotz der Rally liegen brasilianische Aktien noch weit unter den Höchstständen.

Und wie sieht es mit den aktuellen Bewertungen aus?

Nubank handelt nach dem Anstieg auf Basis der 2023 Zahlen jetzt wieder bei 6,3 Mal Buch und dem 54-fachen Reingewinn für dieses Jahr. Allerdings steht die Bank immer noch am Anfang des langjährigen Wachstumspfads. Die Bewertungen für 2025 liegen bei einem P/B von “nur noch” 4,2 und einem KGV von 19.

XP sieht mit einem KGV von 14,8 für dieses Jahr nicht teuer aus, auf 2025 Basis liegt der Indikator bei gerade einmal 10,9.

Die Bewertung der Mercadolibre Aktie liegt bei 31 Mal 2023 EBITDA. Auf Basis der Erwartungen für 2025 ist es aber nur noch 17-fache.

Sehr moderat ist PagBank mit 3,9 Mal 2023 EBITDA bzw. 2,5 (2025) bewertet.

Die aktuelle Bewertung von Zenvia mit 2 Mal 2023 EV/EBITDA ist dagegen irreführend. Das Unternehmen dürfte an einer Kapitalerhöhung nicht vorangekommen. Der tatsächliche Wert würde dann beim 3,5-fachen liegen, ein immer noch moderater Wert.

Fazit Brasilien Aktien

Lula’s Minderheitsregierung erscheint relativ zahnlos, möglicherweise eine gute Sache. Die wirtschaftliche Lage ist durchwachsen, daran sind die brasilianischen Unternehmen aber seit jeher gewöhnt. Die Aktien der Digitalisierungsgewinner in Brasilien sind nach wie vor nicht teuer.

Die große Hoffnung liegt jetzt in der Geldpolitik. Die Proaktive Haltung und Geduld der Zentralbank zahlen sich aus: Jetzt dürfte es zeitnah Zinssenkungen geben, während es anderswo immer noch erhöht wird. Dabei eröffnet das sehr hohe Niveau der Realzinsen besonders viel Spielraum.

Daher sind wir für brasilianische Aktien sehr optimistisch gestimmt.

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Dieser Beitrag stellt eine Meinungsäußerung und keine Anlageberatung dar. Bitte beachte die rechtlichen Hinweise.

Autor

  • Steffen Gruschka

    Steffen war von 1998 bis 2006 im Fondsmanagement der DWS als Leiter Aktien Osteuropa tätig und dort für bis zu 5 Mrd. Euro AuM verantwortlich. Er wurde für seine Arbeit als Fondsmanager mehrfach prämiert u.a. wurde er von der Zeitschrift Finanzen 2003 mit dem DWS Russia als Fondsmanager das Jahres ausgezeichnet. Anschließend machte er sich in London selbständig und verwaltete über 10 Jahre lang Hedge Fonds. Anfang 2021 stieg er als Partner bei Pyfore Capital ein und ist seither für das Fondsmanagement des EM Digital Leaders verantwortlich.

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Steffen Gruschka

Steffen war von 1998 bis 2006 im Fondsmanagement der DWS als Leiter Aktien Osteuropa tätig und dort für bis zu 5 Mrd. Euro AuM verantwortlich. Er wurde für seine Arbeit als Fondsmanager mehrfach prämiert u.a. wurde er von der Zeitschrift Finanzen 2003 mit dem DWS Russia als Fondsmanager das Jahres ausgezeichnet. Anschließend machte er sich in London selbständig und verwaltete über 10 Jahre lang Hedge Fonds. Anfang 2021 stieg er als Partner bei Pyfore Capital ein und ist seither für das Fondsmanagement des EM Digital Leaders verantwortlich.

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