Die Aktien-Verluste der letzten Wochen haben bei einigen Anlegern Crash-Ängste geweckt. Doch Angst ist selten ein guter Ratgeber. Wir setzen das Börsengeschehen in einen größeren Kontext und schlagen fünf Fragen vor, die sich Anlegerinnen und Anleger stellen sollten, bevor sie zur Tat schreiten.
Warum die Märkte 2022 schwach gestartet sind
Das neue Börsenjahr ist turbulent gestartet. Stand heute haben die meisten Marktindizes und Portfolios Verluste verzeichnet. Gründe für die Verluste gibt es viele. Eine kurze Übersicht zu den Ursachen:
Makroökonomisch
Da ist zum einen die US-Notenbank. Die Fed hatte bereits im Dezember 2021 eine geldpolitische Kehrtwende angekündigt, und Fed-Chef Powell hat diese Absicht bereits zweimal in diesem Jahr bekräftigt. „No more Mr. Nice Guy“, bringt es die FT heute gut auf den Punkt. Die Inflation in den USA steigt, und die US-Notenbank muss gegensteuern. Allerdings ist gerade das ziemlich heikel. Denn die Preise steigen auch deshalb, weil die Lieferketten gestört sind. Dann träfen Zinserhöhungen auf eine sich gerade normalisierende Nachfrage. (Das erklärt, warum die EZB derzeit sehr viel zögerlicher agiert als die Fed). Die Sache ist also ziemlich vertrackt.
Geopolitisch
Es schlägt gerade die Stunde der Sandkastenstrategen. Die Ukraine-Krise wird von Experten rauf und runter analysiert, und die Szenarien sind nicht ermutigend. Auch das ist ein Anlass für die erhöhte Marktvolatilität. Das sieht man am besten an der Entwicklung russischer Aktien. Ungeachtet hoher Energiepreise befinden sich russische Aktien inzwischen in einem Bärenmarkt. Sollte Russland tatsächlich in der Ukraine einmarschieren, werden auch die globalen Märkte ziemlich sicher einen Schock erleiden. Auch wenn eine Prognose unmöglich ist, dürften zunächst Treasuries und Gold sowie andere Rohstoffe Schutz versprechen (Gold könnte aber auch als liquides Asset erst mal abverkauft werden; es ist, wie gesagt, alles nicht so einfach).
Die Unternehmensebene
E-Nutzfahrzeug-Hersteller Rivian ist das Paradebeispiel für hoffnungslos überbewertete Aktien, die dank der Politik des billigen Geldes 2020-2021 besonders kräftig nach oben gespült wurden. Rivian war kurz nach dem IPO im Herbst 2021 über 140 Milliarden Dollar wert – bei einer geplanten Jahresproduktion von 1.200 Stück (das Ziel wurde übrigens gerissen). Auch spezialisierte Tech-Firmen, etwa Software as a Service Anbieter, die zwar wachsen, aber von denen viele keine Gewinne schreiben, zählen zu den Aktien, die 2020 auf ungeahnte Kurshöhen stiegen. Seit Mitte 2021 ist deren Höhenflug zu Ende, sie brechen seitdem massiv ein. Inzwischen kann man von einer Growth-Korrektur sprechen. Value-Aktien sind dagegen kaum von den Crash der Highgrowth-Werte betroffen. Es handelt sich also mitnichten um eine umfassende Korrektur. Die untere Grafik zeigt den bisherigen Umfang der Verluste in einigen ausgewählten Märkten.
Gewinner und Verlierer 2022: Eine Auswahl an Märkten und Portfolios
Comeback der Perma-Bären. Es fiel mir heute auf, dass der notorische Pessimist Jeremy Grantham vor einer „Superblase am US-Markt“ warnt. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich den pessimistischen Hedgefonds-Manager davor das letzte Mal zur Kenntnis genommen hatte. Im heutigen Umfeld sucht man wahrscheinlich unbewusst nach solchen Schlagzeilen. Häufen sich die schlechten Vorzeichen für die Märkte, kommt es zunehmend zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen. Schlechte Nachrichten führen zu Verkäufen, die damit die nächsten Schlagzeilen produzieren, die wiederum Abverkäufe bewirken. In solchen Zeiten sind auch wir Optimisten empfänglicher für die Botschaften der Perma-Bären.
(Anmerkung: Der typische Perma-Bär angelsächsischer Prägung ist im Gegensatz zu Crash-Gurus ein seriöser, nicht zwingend erfolgreicher, Investor oder Akademiker, der wegen seiner intellektuellen Brillanz als Sparringspartner Gold wert ist. Etwa Jeremy Grantham, oder Mohamed El-Erian, Robert Shiller, und, grenzwertig, Nassim Taleb. Und, nein: Max Otte und Dirk Müller sind keine Perma-Bären.)
Kommen wir nun zu unserer kleinen Check-Liste in Gestalt von fünf Fragen, die Anleger reflektieren sollten, bevor sie Aktien oder Fonds aus dem Portfolio werfen. Investieren ist eine langfristige Angelegenheit, die möglichst langweilig und keinesfalls vom Verlauf einer einzigen volatileren Marktphase abhängig sein sollte.
1. Leidet Euer Portfolio aktuell besonders stark?
Wenn sich Euer Portfolio so verhält, wie die roten Balken der oberen Grafik, dann habt Ihr zu einseitig investiert. Selbst reine Aktienportfolios (Wir reden hier bewusst von Portfolios und nicht von einzelnen Fonds) sollten per Stand heute nicht mehr als zehn Prozent in diesem Jahr verloren haben. Sollten Eure Portfolios seit November 2021 einen Verlust von über 30 Prozent aufweisen, dann sind Alarmzeichen angebracht. Dann solltet Ihr einen Berater Eures Vertrauens zurate ziehen. Oder leistungsfähige Tools einsetzen, die Portfolios auf Klumpenrisiken durchforsten. Ein Portfolio, das nur dann profitiert, wenn ein kleiner Bereich des Marktes haussiert, ist nicht gut diversifiziert. Diversifikation ist der einzige Free Lunch, den man als Anleger am Markt geschenkt bekommt. Dieses Geschenk solltet Ihr annehmen. Mehr zum Thema Diversifikation lest Ihr hier.
Sind Eure Aktien-Anleihen (ETF- oder Fonds-) Portfolios dagegen nur leicht im Minus in diesem Jahr, dann habt Ihr alles richtig gemacht. Sollten die Märkte in den nächsten Wochen ohne fundamental erkennbare Gründe heftiger ausschlagen, Stichwort: Ukraine-Krise, dann wäre es eine Überlegung wert, mit einem außerplanmäßigen Rebalancing den Anteil riskanter Assets zu erhöhen. Das wäre antizyklisches Investieren aus dem Lehrbuch!
2. Hat sich an Eurer finanziellen Situation etwas grundsätzlich verändert?
Oftmals lohnt es sich von Fall zu Fall zu prüfen, ob sich etwas an der eigenen finanziellen Situation verändert hat. Wer sein Portfolio in diesen Tagen überprüft, sollte bei dieser Gelegenheit prüfen, ob die Prämissen hinter der finanziellen Bilanz noch gültig sind und ob sich die eigenen finanziellen Ziele verändert haben. Bei der Gelegenheit wäre zu prüfen, ob wirklich alle relevanten Parameter erfasst wurden. Die persönliche finanzielle Bilanz ist weitaus komplexer, als das oft in den klassischen Ratgebern dargestellt wird. Wer eine Gehaltserhöhung bekommen hat, kann die monatliche Sparrate erhöhen. Oder es gibt noch Vermögenswirksame Leistungen (VL) zu holen, die Ihr nicht beantragt habt? Mehr zur Erstellung der persönlichen finanziellen Bilanz erfahrt Ihr hier.
3. Hat sich Grundsätzliches an den Märkten verändert?
In den meisten Zeiten ist diese Frage rein rhetorischer Natur. Auch wer kein Volkswirt oder Fondsmanager ist, hat als interessierter Investor bzw. Zeitungsleser die relevanten Risiken der Märkte recht schnell im Blick. Aktuell befinden wir Investoren uns aber in einer sehr spannenden Situation. Es verschiebt sich gerade Grundsätzliches an den Märkten. Das betrifft weniger die Frage, ob die russische Armee in der Ukraine einmarschieren wird. Ein Einmarsch hätte einen Crash zur Folge, eine Deeskalation würde den Märkten einen Schub geben. Beides lässt sich weder modellieren noch seriös vorhersagen, insofern drängt sich hier kein Handeln auf.
Die Situation ist vielmehr deshalb so spannend, weil sich eine Änderung der US-Geldpolitik abzeichnet. Die US-Notenbank wird 2022 die Zinsen erhöhen. Das wird Folgen auch für uns haben. Ebenso für uns gilt: Die Fed macht die Musik am Anleihemarkt, nicht die EZB. Die Renditen an den Anleihemärkten werden auch in Europa steigen. Das wird Auswirkungen für alle Anlageklassen haben: für die relative Attraktivität von Anleihen, die Zukunft von Kryptowährungen, die Frage, ob Value oder Growth vorne liegen werden usw. Fest steht: Wenn die Märkte nicht länger im Cash ertrinken, wird es wieder klare Verlierer geben. Dann werden nicht alle Boote von der Flut nach oben gespült. Profitabel wachsende Unternehmen, einschließlich Tech-Werte, die jüngst unter Druck geraten sind, aber auch lange vernachlässigte Europa Aktien sind interessante Marktsegmente, auf die es sich zu schauen lohnt.
4. Verleitet Euch die Nervosität der Märkte zu unüberlegtem Handeln?
Leider machen uns unsere Urinstinkte immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Wir sind als Anleger nicht vor klassischen Fehlern gefeit, Behavioral Finance Fallen drohen überall. Ein „Trigger“, der unerwünschtes Handeln bedingt, ist der Fluchtreflex, der sich im Kollektiv auch als Herdentrieb manifestiert. Bei drohender Gefahr, etwa beim Nahen eines Säbelzahntigers, haben unsere Vorfahren aus grauer Vorzeit gelernt, schnell das Weite zu suchen. Auch 500 Jahre Börsenkultur haben uns diesen Reflex nicht ausgetrieben.
Es ist deshalb wichtig, zwei Begrifflichkeiten voneinander zu unterscheiden: die Risikotoleranz von der Risikotragfähigkeit. Die Risikotoleranz wird von den erwähnten Instinkten geformt. Weil Börsenverluste schmerzen, aber nicht tödlich sind, sollten wir diese Affekte zähmen. Das ist gerade für unerfahrene Anleger schwierig, aber wichtig zu begreifen. Entscheidend für unser Handeln an der Börse ist die Risikotragfähigkeit. Sie lässt uns volatile Märkte überstehen, weil wir es uns leisten können. Wenn Ihr also noch 20, 30 oder mehr Jahre bis zur Rente habt, dann sind Kursverluste von 30, 40, 50 oder mehr Prozent keine Gefahr, sondern großartige Kaufgelegenheiten. Denn Eure Risikotragfähigkeit ist noch groß. Mit dem Nahen der Rentenphase dagegen nimmt die Risikotragfähigkeit ab. Schließlich soll die Rentenphase üppige Erträge abwerfen! Dann geht es darum, die Risikofreude zu zügeln!
5. Könnt Ihr etwas an der aktuellen Lage ändern?
Wir Menschen neigen dazu, unsere Fähigkeit, den Gang der Dinge zu beeinflussen, zu überschätzen. Das führt in der Praxis zu schädlichem Aktionismus. Wer also gerade damit liebäugelt, wegen der erhöhten Volatilität das Risiko aus dem Portfolio „rauszunehmen“, um später wieder “reinzugehen”, sollte sich zunächst fragen, ob er oder sie in der Lage ist, den Kursverlauf der Märkte zu timen. Wer jetzt verkauft, weil er meint, „etwas tun zu müssen“, der untergräbt im Zweifel sein langfristiges finanzielles Ziel. Anders formuliert: Wer jetzt über Cash oder Derivate sein Depot absichert, wettet faktisch gegen die eigene, langfristige Anlagestrategie. Nicht umsonst ist taktische Asset Allocation, die auf bereits geschehene Ereignisse reagiert, so wenig erfolgreich.
Ihr solltet nur dann handeln, wenn Ihr mit einiger Sicherheit davon ausgehen könnt, etwas in Eurem Sinne beeinflussen zu können. Und da gibt es einige Stellschrauben. Ihr könnt die Kosten kontrollieren. Gesparte Kosten schlagen sich 1:1 positiv auf die Rendite durch. Etwa indem Ihr die Brokerage-Kosten bei Aktieninvestments senkt. Oder durch einen Bankwechsel bei Fonds den Ausgabeaufschlag spart. Oder die laufenden Gebühren von Fonds reduziert – erschreckend viele Fondsmanager sind erschreckend wenig aktiv. Viele weichen nur geringfügig von ihren Vergleichsindizes ab, kassieren aber Gebühren, die den Kosten aktiver Manager entsprechen. Man spricht vom Phänomen des verkappten Indexfonds (Closet Indexing). Diese Gebühren solltet Ihr sparen, indem Ihr entweder auf echte aktive Manager setzt, oder aber gleich in einen günstigen Indexfonds investiert. Darüber hinaus gibt es heute Plattformen, die für das beratungsfreie Geschäft bei Fonds keine Vertriebsgebühren erheben. Solche Plattformen erstatten einen ordentlichen Teil der Fondsgebühren zurück.
Disclaimer
Dieser Beitrag stellt eine Meinungsäußerung und keine Anlageberatung dar. Bitte beachte die rechtlichen Hinweise.
Autor
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Ali Masarwah ist Gesellschafter-Geschäftsführer der Fondsplattform envestor.de und schreibt auch Kolumnen über Investmentthemen für The Digital Leaders Fund. Anleger-orientiertes Research ist seit über 20 Jahren Alis Ding. Vor seiner Zeit bei envestor.de war er zehn Jahre lang bei Morningstar, wo er für die Personal Finance Websites des Analysehauses in Deutschland verantwortlich war. Als Experte für Anlagethemen ist er ein gefragter Ansprechpartner für Finanzmedien im deutschsprachigen Raum.
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